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Eine Frau zündet Kerzen an einem Adventskranz an.

Die Kraft der Rituale – Ankerpunkte des Zusammenlebens in der Advents- und Weihnachtszeit

03.12.2025

Die dunkelste Zeit des Jahres ist zugleich die Zeit der leuchtendsten Rituale: Laternenumzüge an St. Martin, geputzte Stiefel am Nikolausabend, Lichterfeste am Luciatag und Adventskränze in den Wohnzimmern. Diese wiederkehrenden Handlungen sind für mich lieb gewonnene Tradition und noch mehr: sie können Ankerpunkte sein, die uns als Gesellschaft zusammenhalten.

Intuitiv spüren viele, dass Rituale eine wichtige psychologische und soziale Funktion übernehmen: Immer zur selben Zeit das selbe zu tun, strukturiert Zeit und schafft Sicherheit. Wenn daran außerdem nicht nur ich allein sondern viele Menschen beteiligt sind, entsteht ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und soziales Bewusstsein. In einer Zeit, in der vieles individualisiert ist, ein wichtiger gesellschaftsstabilisierender Aspekt.

Gemeinsam verbrachte Freizeit ist ein Geschenk und es ist etwas Besonderes, wenn wir als Gesellschaft bestimmte Feste bewusst gestalten und „heiligen“ – nicht im engeren religiösen Sinne, sondern als Momente des bewussten Miteinanders.

St. Martin, der seinen Mantel mit einem Bettler teilt, erinnert uns ans Teilen von Ressourcen, damit niemand zu kurz kommt, während andere zu viel haben. Nikolaus von Myra symbolisiert ebenso Großzügigkeit und Fürsorge für Bedürftige. Das Gedenken an die Heilige Lucia, die unter Lebensgefahr verfolgten Christen in Syrakus Lebensmittel brachte und ihren Weg mit einem Lichtkranz auf dem Kopf erleuchtet haben soll, greift auf das Kommen des Lichts der Welt an Weihnachten vor.

Auch wenn nicht mehr alle Menschen die religiösen Ursprünge dieser Feste in ihrer vollen theologischen Tiefe nachvollziehen können oder wollen, können wir uns auf ihre zugrundeliegenden Werte einigen: Teilen, für einander da sein, Hoffnung schenken, Licht in die Dunkelheit bringen. So eine Einigung auf zentrale Wahrheiten kann unsere advent- und weihnachtlichen Rituale zu einer wertvollen Säule des gesellschaftlichen Zusammenlebens machen.

Doch Rituale bergen auch Ambivalenz. Gemeinschaftsbildung und Zugehörigkeitsgefühl auf der einen Seite – Ausgrenzung und Einsamkeit auf der anderen. Viele Menschen fühlen sich gerade an den Weihnachtstagen einsam, wenn „alle anderen“ bei ihren Familien sind und sie selbst keine (mehr) vor Ort haben oder Streitigkeiten nicht aus dem Weg geräumt werden können. Auch durch ihre kulturelle oder religiöse Tradition können sich manche ausgeschlossen fühlen: Wer den „Code“ nicht kennt, gehört nicht dazu. Psychologische Forschungen zeigen zudem, dass Rituale zwar den Zusammenhalt innerhalb einer Gruppe stärken, aber auch Vorurteile gegenüber Außenstehenden oder Angehörigen anderer Gruppen erhöhen können. Der „sichere Rahmen“, den Rituale bieten, kann also auch zur einschränkenden Grenze werden.

Deshalb braucht es Offenheit und Flexibilität und – so paradox es klingt: Rituale dürfen dynamisch sein. Ein bloßes Festhalten an Traditionen, nur weil man sie eben „immer schon so gemacht hat“, kann Rituale ihrer lebendigen und verbindenden Kraft berauben.
Wo finden wir also solche verbindenden und lebendigen Rituale in unserem täglichen Leben? Es sind nicht nur die großen Feste im Dezember, sondern auch die wiederkehrenden kleinen Gesten im Alltag: das gemeinsame Essen in der Familie, der Morgenkreis im Kindergarten, die Kaffeepause mit Kolleginnen und Kollegen, das Gute-Nacht-Ritual mit den Schulkindern. Überall dort, wo wir bewusst innehalten und allein oder gemeinsam etwas regelmäßig tun – nicht aus Zwang, sondern weil wir es als wertvoll erachten – entsteht Verbundenheit. Dort, wo Rituale offen bleiben für Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, können sie zu Brücke für eine plurale Gesellschaft werden. Dort, wo Rituale einen Zusammenhang herstellen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, begünstigen sie zugleich Kontinuität und Veränderung in gemeinschaftlichen Wachstumsprozessen.

Für Pater Kentenich war die Gestaltung von Bindungen und gemeinschaftlichen Formen zentral für gelingendes Leben. Seine pädagogische Vision orientierte sich auf das Ziel eines „neuen Menschen in einer neuen Gemeinschaft“ – nicht als abstrakte Idee, sondern als gelebte Wirklichkeit zwischenmenschlicher Beziehungen. Dabei war ihm wichtig, dass diese Gemeinschaftserfahrungen nicht oberflächlich oder formalistisch bleiben. Er warnte davor, dass religiöse Formen und Rituale zu „seelenlosen“ Strukturen erstarren können, die ihre innere Kraft verlieren. Vielmehr sollten Rituale und religiöse Praktiken das Herz der Menschen ansprechen und echte Bindung – sowohl untereinander als auch zu Gott – ermöglichen.
Eine zentrale Einsicht Kentenichs bleibt aktuell: Die Formen des Glaubens und der Gemeinschaft müssen mit den Menschen sprechen, wie sie wirklich sind – nicht mit einem idealisierten Bild aus vergangenen Zeiten. Echte religiöse Rituale entstehen dort, wo sie nicht nur äußerliche Regeln befolgen, sondern innere Haltungen ausdrücken und nähren. Sie sollen Menschen zusammenbringen, nicht separieren; sie sollen öffnen, nicht verengen.

Rituale sind weder pauschal heilig noch gefährlich. Sie sollen dem Leben dienen: Sie können uns in stürmischen Zeiten Halt geben und Menschen zusammenbringen, die ansonsten nur wenig verbindet. Sie können uns an Werte erinnern, die über Generationen hinweg wichtig sind. Wenn wir sie als lebendige Formen verstehen, die sich entwickeln, die Menschen einladen statt auszuschließen und die echte Begegnung ermöglichen, erfüllen Rituale ihren tiefsten Sinn: Sie werden zu Brücken zwischen Menschen und Ankerpunkten einer Gesellschaft, die sich bewusst ist, woher sie kommt und mutig eine gemeinsame Zukunft gestaltet.

Magdalena Kiess, Berlin
Theologin

Foto von ROMAN ODINTSOV: https://www.pexels.com/de-de/foto/frau-beleuchtung-ausleuchtung-weihnachten-6334750/

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