Michael Maas
Eine Spurensuche in Zeiten von Corona. Schwierig.
18.03.2020
Wir befinden uns in einer Zeit, die wir nicht einordnen können. Die älteren Leserinnen und Leser kennen das vielleicht noch aus Kriegszeiten. Seitdem gab es immer nur eine Richtung: aufwärts. Auch minimale Krisen können darüber nicht hinwegtäuschen. So etwas, was wir jetzt erleben, kennen alle, die jünger als 70 Jahre alt sind, nicht mehr.
Langsam, sehr langsam erkennt auch die Politik, dass es drastischere Maßnahmen braucht, als Händewaschen und der Bevölkerung zu erzählen, sie solle nicht in Panik verfallen. Denn in der Tat: wenn das Haus brennt, dann nützen freundliche Worte der Beschwichtigung nicht.
Das ist aber noch nicht überall angekommen. Gerade erfahre ich von einem Bekannten, der mit einem Freund etwas unternommen hatte, der positiv auf Corona getestet wurde und der morgen zur Arbeit will. Ein anderer berichtet davon, dass in seiner Firma jemand nach dem Tirolurlaub wieder zum Schaffen kam und er jetzt ein mulmiges Gefühl hat. Der Chef sieht darin kein Problem.
Mich beunruhigen Artikel von Journalisten, die die Lage in Deutschland mit dem Blick aus Italien oder China betrachten und die feststellen, dass wir den Ernst der Lage noch nicht verstanden haben. Genau das, was ich in meinem Bekanntenkreis erfahren habe, scheint allenthalben zu gelten. Man nimmt die Gefahr nicht wahr. Es ist ja draußen sonnig und schön. Alles scheint ganz “normal” weitergehen zu können.
Mir macht das große Sorgen. Nicht nur, weil ich selbst mit starkem Asthma zur Risikogruppe gehöre, sondern weil ich befürchte, dass es bei uns werden wird wie in Italien. Dort können die Ärzte in den Krankenhäusern ältere Menschen gar nicht mehr behandeln. Zudem sind sie mit ihren Kräften am Ende und können nicht mehr. Das Schlimmste steht aber auch dort noch bevor. Und über allem steht die bange Frage, wie lange das gehen soll. Wochen, Monate, Jahre?
Veranstaltungen können nicht mehr abgehalten werden. Besuche bei Familienangehörigen müssen entfallen. Ja, sogar Gottesdienste, die ja eigentlich Trost und Halt geben sollen, können nicht mehr gefeiert werden. Unser alltägliches Leben beginnt sich völlig zu verändern und wir müssen damit rechnen, dass es noch drastischere Maßnahmen geben wird. In Italien haben die Menschen seit einer Woche Ausgangssperre. Das droht auch bei uns – oder soll ich lieber sagen: Ich hoffe, dass das auch bei uns bald kommt, um die Zahl der Erkrankungen und der Todesfälle einzudämmen?
Neben der Sorge um die Gesundheit trifft dabei viele auch die Sorge um den Arbeitsplatz, die Firma, letztlich der eigenen Existenz. Und: Die Armen, die Bedürftigen trifft die dramatische Situation zusätzlich. Tafeln müssen ihren Betrieb einstellen. Für einen Schutz ihrer Gesundheit können sie nicht sorgen.
Und jetzt: Spurensuche? In diesem ganzen Wirrwar danach fragen, was uns Gott damit sagen will?
Mir kommt ein Satz aus der Lesung in den Sinn, die am 3. Fastensonntag in der Leseordnung vorgesehen ist: “Ist der Herr in unserer Mitte oder nicht?” So fragen dort die murrenden Israeliten in der Wüste. Sie haben nicht genug zu Essen und wären lieber in der Knechtschaft Ägyptens geblieben, als vor Hunger auf einem ungewissen Weg in ein neues Land umzukommen.
Die Israeliten stellen fest, dass auch in dieser ausweglos erscheinenden Situation Jahwe sie nicht allein lässt und der Gott bleibt, der mit ihnen ist und ihnen zur Seite steht. Letztlich kommen sie – wenn auch erst nach 40 Jahren – im gelobten Land an.
Für mich heißt das: Auch in der Extremsituation, in der wir uns jetzt befinden, dürfen wir auf Gott vertrauen. Er verlässt uns nicht und bleibt an unserer Seite. Gerade in Krankheit, Not, ja selbst im Tod. Das ist es, was wir in der Fastenzeit und in den Kartagen Jahr für Jahr betrachtend in uns aufnehmen. Und doch stellt sich die Frage: Habe ich das tatsächlich auch existentiell begreifen können? Oder war das nicht doch etwas, das zwar ganz grundsätzlich gilt, aber eben letztlich nicht in meinem Leben vorkam? Nun fordert mich die Auseinandersetzung mit dem möglichen eigenen Sterben dazu, diese Fragen zu bedenken und den Glauben an den Gott, der ewiges Leben verheißt, noch einmal ganz anders, intensiver, zu erleben.
Etwas weniger existentiell, aber nicht weniger bedeutsam ist die Frage, wie es mit dem Leben jetzt weiter geht. Die Schulen und Kindergärten haben geschlossen, weitere Einschränkungen werden kommen. Alles, was uns umgetrieben hat, was so wichtig schien, ist Makulatur: Sportveranstaltungen, Treffen, Urlaubsreisen … Wir werden mit einem Mal auf Null gesetzt. Und wir sind das nicht gewöhnt. Wenn man in der Fastenzeit auf Alkohol oder Süßigkeiten verzichtet hat, dann war es schon viel. Nun sind wir zu einem Fasten der ganz extremen Art aufgefordert. Die Frage lautet: Können wir das noch? Sind wir in der Lage uns einzuschränken und mit wenig zufrieden zu sein? Können wir als Familie noch die Zeit miteinander gestalten?
Denn: Wir haben uns an den Individualismus schon sehr gewöhnt. Jeder macht, was er oder sie für richtig hält. Genau diese Haltung kommt nun an Grenzen. Dort, wo es noch in der Freiwilligkeit steht, sehen wir, dass es auch nicht weit her ist mit Rücksichtnahme auf die Schwachen. Die Cafés in Baden-Württemberg waren jetzt am Sonntag jedenfalls voll. Die Bereitschaft zur Rücksichtnahme wird aber, sobald verordnet, unsere Familien herausfordern: Wochenlang in einer vielleicht engen Wohnung miteinander auskommen zu müssen, das braucht Verständnis füreinander und die Bereitschaft, sich zurückzunehmen, zu verzichten.
Das ist vielleicht die neue Form der Sozialkontakte, die wir ja nun einschränken sollen, obwohl sie doch unser Leben gerade ausmachen. Ich lade daher Familien dazu ein, gemeinsam zu spielen, miteinander zu beten und füreinander zu sorgen. Sich in angespannten Zeiten zu vergeben, wenn im Stress des Alltags ein unbedarftes Wort gefallen ist. Das ist eine ganz konkrete Herausforderung, die uns diese Fastenzeit – und vermutlich noch weit darüber hinaus – auferlegen wird. Vielleicht wird unsere Gesellschaft, wenn wir diese Zeiten überstanden haben, neu gelernt haben, was es heißt, Rücksicht zu nehmen und zu verzichten. Nicht zuerst nach dem zu fragen, was mir persönlich etwas bringt, sondern das Wohl der anderen im Blick zu haben.
Und ein letztes: Die Krise konnte so groß werden, weil wir mittlerweile weltweit unglaublich vernetzt sind. Prinzipiell ja eine schöne Sache. Aber wir sind abhängig von anderen Ländern und deren Produktionen, weil wir es möglichst billig haben wollen. Vielleicht müssen wir “regional und saisonal” nicht nur auf Lebensmittel anwenden, sondern ausweiten auf andere Produkte, die dann teurer werden, mit deren Kauf wir dann aber auch niemanden auf der Welt ausbeuten. Es steht vielleicht in Frage, ob wir unseren Urlaub auch “heimatnah” verbringen können, anstatt Aufregendes in der großen weiten Welt zu suchen…
Sollte der liebe Gott jedenfalls wollen, dass ich diese Zeiten überlebe, dann werde ich in meinem Leben einiges zu überdenken haben.
Direktor Michael Maas
Leiter des Zentrums für Berufungspastoral, Freiburg
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