Staatsraison
18.06.2025
Zurzeit taucht fast täglich in Nachrichtensendungen und politischen Talks der Begriff der „Staatsraison“ auf. Immer wieder wird betont, dass es zur Staatraison Deutschlands gehöre, für das Existenzrecht des Staates Israel einzustehen, was mit der deutschen Verantwortung für die Ermordung von Juden während der Naziherrschaft begründet wird. Darum sagte zum Beispiel Angela Merkel 2008 vor der Knesset in Jerusalem: „Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“
Der in der politischen Ideengeschichte seit der Renaissance verwendete Begriff der Staatsraison meint die nicht hinterfragbare Begründung, mit der ein Staat sein Selbstverständnis sowie die Art und Weise definiert, wie er seine Interessen durchsetzt. Hier spielt als entscheidender Faktor eine Rolle, wer die politische oder militärische Macht besitzt, sich mit seiner Meinung durchzusetzen.
Ohne diesen Begriff zu verwenden, stehen sich schon immer, so auch heute, verschiedene Arten von Staatsraison teils unversöhnlich gegenüber. So gehört es zur offen bekundeten Staatsraison des Iran, den Staat Israel auszulöschen. Zur Staatsraison Russlands unter Putin gehört es offenbar, die Ausdehnung des alten russischen Reiches wiederherzustellen. Für Trump lautet die Formulierung der Staatsraison für die USA: „America first!“ Ideologische Gruppen quer durch die Länder folgen ihren eigenen Maximen.
Eine Formulierung, die mir in diesen Tagen durch den Kopf geht, lautet: „Ja, ich verstehe und bejahe unsere Verantwortung für Israel, aber…!“ Und dann setzt mein christlich geprägtes Gewissen ein, das mir unüberhörbar eine andere „Staatsraison“ entgegenhält, nämlich die des „Reiches Gottes“: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe!“ (Joh 15,12) – Das Gebot der Nächstenliebe, der Feindesliebe und der Selbstliebe (Mt 5,43).
Ich weiß: Viele werden dem kritisch erwidern, dass das eine „Staatsraison“ für religiöse Romantiker sei. Ich möchte entgegenhalten: Bitte, verharmlosen wir diesen Stachel im Fleisch der Politik nicht, sonst werden wir, ohne es zu merken, zum Spielball und Machtbeschaffer für solche, die ihre eigenen Interessen verfolgen! Wer den Spagat zwischen der christlichen Forderung der Liebe als oberster Maxime und dem politischen Weltgeschehen nicht aushalten kann, gibt denen Recht, die gerade davon sprechen, der dritte Weltkrieg habe bereits begonnen.
Hubertus Brantzen, Mainz
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