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Begegnung als Grunderfahrung des Lebens

Begegnung als Grunderfahrung des Lebens 

von Elmar Busse 

Im Sommer 2022 heiratet die amerikanische Schauspielerin und Synchronsprecherin Selena Gomez sich selbst. Später gab sie zu, an Depressionen und Angstzuständen gelitten zu haben. Mittlerweile hat sich die 31-Jährige davon befreit und zu sich selbst gefunden. Ihre hart erkämpfte Selbstliebe krönte sie im Juli 2022 mit einem ganz besonderen Ereignis – eben ihrer Heirat mit sich selbst. In Europa sind solche Eskapaden nicht möglich. Sie ist übrigens nicht die einzige Prominente, die damit in die Schlagzeilen gekommen ist.

Personen, die krankhaft um sich selbst kreisen

In der griechischen Sagenwelt gibt es die Gestalt des Narziss. Er ist in der griechischen Mythologie ein schöner Jüngling, der die Liebe anderer zurückwies und sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte, vor Sehnsucht dahinschwand und in die gleichnamige Blume verwandelt wurde. Nach ihm wurde in der Psychologie das Krankheitsbild Narzissmus benannt. Damit werden Persönlichkeiten beschrieben, die nur um sich selber kreisen, kaum einfühlsam sind und leicht kränkbar. Die Trierer Paartherapeutin Stefanie Stahl hat sich in vielen populärwissenschaftlichen Ratgebern mit diesem Phänomen beschäftigt. Narzissmus ist eine der Spielarten einer weitverbreiteten Störung der Beziehungsunfähigkeit, Beziehungsangst und Beziehungsvermeidung. Die Folge dieser Störung ist Einsamkeit – ein Problem, das längst nicht mehr nur von verwitweten Rentnerinnen und Rentnern thematisiert wird, sondern auch von vielen jungen Erwachsenen leidvoll beschrieben wird. 

Doch wie kommt es dazu? Werfen wir einen Blick in die Geschichte der Entwicklungspsychologie: Der Kinderarzt und Psychologe John Bowlby gilt als Pionier der Bindungstheorie. Im Jahr 1951 wurde die im Auftrag der WHO von John Bowlby erstellte Studie über den Zusammenhang zwischen mütterlicher Pflege und seelischer Gesundheit veröffentlicht. Sie bildete einen Beitrag für das Programm der UNO zum Wohle heimatloser Kinder. Nach vielen Jahren der Forschung veröffentlichte er 1969 das Buch „Bindung – Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung“. Damit wandte sich die Forschung neben den hindernden auch den fördernden Faktoren in der Mutter-Kind-Beziehung zu. Sein Buch „Frühe Bindung und Kindliche Entwicklung“ wurde in die Liste der 100 Meisterwerke der Psychotherapie aufgenommen. 

Das Besondere der schönstattischen Spiritualität

Pater Josef Kentenich wurde aufgrund der eigenen Biographie für diese Problematik sensibilisiert. Seine Mutter musste ihren damals achteinhalbjährigen unehelichen Sohn in ein Waisenhaus geben, um den Lebensunterhalt verdienen zu können. Dieser tief empfundene Trennungsschmerz führte dazu, dass er – um solche Schmerzen in Zukunft zu vermeiden – unbewusst niemand mehr nahe an sich heranließ. Erst nach seiner Priesterweihe wurde er derjenige, der seelisch-geistige Nähe annehmen und anbieten konnte. Erst jetzt entfalteten sich die Vorteile seine Hypersensibilität. Er führte seine Heilung auf den Einfluss der Gottesmutter zurück, die als der Mensch ohne Erbsünde auch der ganz heile und voll beziehungsfähige (zu Gott, zu sich selbst, zu den Mitmenschen) Mensch war, und – mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen – genau diese heilende Wirkung auf Menschen ausübt, die ihre Nähe suchen. 

Vier zentrale Empfehlungen

Aus diesem persönlichen Schlüsselerlebnis entwickelte Pater Kentenich eine Spiritualität, die nicht – wie viele klassische Spiritualitäten – die Trennung von den Geschöpfen als Weg aufzeigt, um sich ganz an Gott zu binden, sondern zunächst eine ganzheitliche vitale Bindung an geschöpfliche Wirklichkeiten betont wissen will. Will man die Schönstatt-Spiritualität in Kurzfassung begreifen, dann lässt sie sich so formulieren:

  1. Bei aller Freude an Mobilität – binde dich an Orte!
  2. Bei aller Freude an Individualität – binde dich an Menschen!
  3. Bei aller Freude an Toleranz – binde dich an Werte!
  4. Bei aller Freude an Weltgestaltung – binde dich an Gott!

Kommen wir noch mal auf Bowlby zurück. Zusammen mit seiner Mitarbeiterin Mary Answorth beobachtete er in der Mutter-Kind-Beziehung vier verschiedene Bindungstypen: unsicher-vermeidende Bindung, sichere Bindung, unsicher-ambivalente Bindung und unsicher-desorganisierte Bindung. Und diese Muster prägen sich schon beim Säugling aus, der das ja gar nicht reflektieren oder gar ausdrücken kann. Aber es prägt sein späteres Verhalten als Erwachsener, wenn er nicht die Gelegenheit hat, als älteres Kind oder Jugendlicher einem väterlichen Freund oder einer mütterlichen Freundin zu begegnen, die ihm mit Wertschätzung und Einfühlung, mit „emporbildendem Verstehen“ (so beschrieb es Kentenich in seinen pädagogischen Tagungen) und einem unerschütterlichen Glauben an das Gute begegnen. Pater Kentenich sprach vom „Nacherlebnis“, das die frühkindlichen Prägungen überschreiben kann.

Der bekannte spirituelle Lehrer, der Wiener Benediktinerpater David Steindl-Rast, hat im Rückblick auf 90 Lebensjahre zusammen mit Johannes Kaup ein Buch veröffentlicht, das den Titel trägt: „Ich bin durch Dich so ich. Lebenswege“. Darin beschreibt er in Zehn-Jahres-Abschnitten viele seiner Begegnungen, die aus ihm das gemacht haben, was er heute ist. Nur in echten, wertschätzenden Begegnungen kann ein Mensch wachsen und ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln. Was wir Christen mit dem Begriff ‚Erlösung“ bezeichnen, ist ja genau das, dass wir in der Begegnung mit Gott zu den freien, beziehungsfähigen, starken Menschen heranreifen, die auch ein reiches Gefühlsleben ihr eigen nennen.

Steindl-Rast wurde 1975 mit dem Martin-Buber-Award ausgezeichnet, weil er sich kompetent für den Dialog der Religionen über Jahrzehnte eingesetzt hatte.

Dass in den vergangenen 20 Jahren die deutsche Schönstatt-Bewegung sich als ökumenische Bewegung in dem Prozess und dem Netzwerk des „miteinander für Europa“ profilieren konnte, liegt genau an der Begegnungsfähigkeit der Protagonisten. Allen Unkenrufen zum Trotz, die die Atomisierung der Gesellschaft, das Auseinanderbrechen in unversöhnliche Lager beklagen, gibt es doch viele Initiativen, die geduldig und zäh an den verschiedensten Netzwerken knüpfen. Auch das Engagement der vielen ehrenamtlichen Helfer angesichts der Überschwemmungskatastrophen in diesem Jahr lassen sichtbar werden, wie tief der Wert Solidarität in unserer Gesellschaft verankert ist. ‚Das WIR bewegt.‘ Dieses Motto unseres diesjährigen Familienfestivals trifft genau den Nerv der Zeit.

(Einzelausgabe kaufen für 3,80 € oder abonnieren)

 

Elmar Busse

Schönstatt-Pater / seit 2015 Hausgeistlicher bei den Armen Dienstmägden Jesu Christi (ADJC) in Dernbach, von 1992 bis 2015 Ehe- und Familienseelsorger.

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Beitragsfoto: © Marius Venter/peopleimages.com · stock.adobe.com