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Beobachtungen aus Politik, Gesellschaft und Kirche zur Polarisierung

Beobachtungen aus Politik, Gesellschaft und Kirche zur Polarisierung

von Christine und Andreas Mörk

Im Oktober 1965 nahmen die Beatles in den Abbey Road Studios in London den Song „We Can Work It Out“ auf. Der Text ist nichts anderes als eine einfache, kurze Handlungsanleitung, Spannungen und gegensätzliche Positionen zu überwinden, und wurde, wie so viele Lieder der Beatles, ein Welterfolg. Aber leider scheint sich die Menschheit diese Tipps nicht zu Herzen genommen zu haben, auch 60 Jahre später. In Gesellschaft, Politik, Kirche, oft auch im Privaten, nimmt die Polarisierung, das Verfestigen des eigenen Standpunkts in Diskussionen, stark zu.

Am offenkundigsten zeigt sich dies in der Politik. Immer häufiger finden Personen oder Parteien starken Zulauf, deren Positionen sich in den äußersten Spektren der politischen Meinungen befinden. Sie tun das medial und oft auch tatsächlich laut und unter massiven Angriffen auf die politischen Gegner, um das eigene Profil noch stärker zu schärfen und zu zeigen: „Wir wissen, wie es geht!“ Dieses Phänomen findet auf praktisch allen Kontinenten unserer Erde statt.

Stark polarisierend sind die großen Konflikte unserer Welt, zum Beispiel zwischen Israel und den Palästinensern oder der Krieg in der Ukraine. Die Konfliktparteien können derzeit nicht vernünftig miteinander reden. Dass es aber auch in unseren Ländern in praktisch jeder politischen und privaten Diskussion scheinbar unverrückbare Standpunkte und keine gemeinsame Sicht auf die Situation gibt, verwundert schon sehr. Problematisch ist etwa auch der Zusammenhang zwischen dem Konfliktherd Naher Osten und dem verstärkten Auftreten antisemitischer Vorfälle in unseren Breiten.

Polarisierung auch im eigenen Umfeld

Auch in unserer nächsten Umgebung hat jeder von uns eine Zunahme der Polarisierung aus eigener Erfahrung erlebt. Denken wir an die Corona-Zeit, als sich Impfgegner und Impfbefürworter unversöhnlich gegenübergestanden sind. Die Risse gingen durch alle gesellschaftlichen Schichten, kirchliche Gemeinschaften und Familien. Je länger die Diskussion dauerte, desto weniger hörte man einander zu, desto mehr grub man sich in der eigenen Position ein. Die Positionen wurden zunächst mit Fakten, aber schließlich immer emotionaler bezogen und argumentiert. Aber stets im – guten – Glauben: „Ich kenne die Wahrheit und habe daher Anspruch darauf, im Recht zu sein!“ Besonders deutlich wird das immer wieder auch bei Konflikten innerhalb unserer Kirchen. Häretiker mit einer anderen Wahrheit wurden in früheren Zeiten noch mit dem Tod bedroht, heute werden sie im schlimmsten Fall exkommuniziert. Aber auch in der eigenen Pfarrei erleben wir immer wieder Polarisierungen, so zum Beispiel rund um die Frage Mund- oder Handkommunion. Oft ist es hier nur ein abschätziger Blick, mit dem die jeweils „Anderen“ bedacht werden. Aber die Folge ist, dass man mit den anderen nichts zu tun haben will, weil deren Glaubenshaltung nicht der meinen entspricht. Von den Medien werden diese unterschiedlichen kirchlichen Positionen dann gerne mit „konservativ“ und „progressiv“ abgestempelt und die jeweiligen Vertreter in das dazugehörige Eck gestellt.

Sehr bedauerlich sind diese Polarisierungen auch im Bereich der Wissenschaften – Beispiel Corona-Pandemie: Professor gegen Professorin, manchmal auch die Ärzteschaft untereinander, die sich gegenseitig der falschen Diagnose, Studie oder schließlich der „Schwurblerei“ bezichtigten. Die Folge war unter anderem die drastische Abnahme des Vertrauens in Wissenschaft und Forschung in der Bevölkerung. Aber auch Aussagen von fachlich sicher versierten Lehrbeauftragten, dass sie diese oder jene Studie, die eine andere Meinung vertritt, „langweilen würden“, zeugt entweder von geradezu unerreichbarer fachlicher Kompetenz oder simpler Selbstüberschätzung. Jedenfalls scheint die Fähigkeit, sich mit anderen Meinungen auch in Wissenschaft und Forschung kritisch auseinanderzusetzen, stark beeinträchtigt zu sein.

Grundsätzlich hat die Polarisierung den positiven Zweck der Verdeutlichung der Unterschiede in den Standpunkten und trägt damit auch zu deren leichterer Verständlichkeit bei. Der Mensch neigt nun aber von vornherein eher dazu, jene Informationen oder Standpunkte zu bevorzugen, die seiner eigenen entsprechen. Sich anderen Meinungen auszusetzen, wird häufig als unangenehm empfunden, da es auch am eigenen Selbstbewusstsein kratzt und die eigene Persönlichkeit infrage stellt.

Der Rückzug in die Echokammer

Die Folge ist, dass man sich verstärkt in „seine“ gesellschaftlichen Gruppen zurückzieht, in seine Echokammer, in der man dann nur noch das hört, von dem man selbst ohnehin schon überzeugt ist. Die Offenheit, vom anderen zu lernen, die eigene Meinung zu hinterfragen oder an der des anderen zu messen, geht so verloren. Mögliche Folgen können sein, dass man beginnt, sich in seine eigene Welt zurückzuziehen, nur noch mehr Medien zu konsumieren, von denen ich weiß, dass sie genau meine Meinung verstärken. Vor allem im Bereich Social Media unterstützen bestimmte Algorithmen eine solche Tendenz, indem sie verstärkt jene Infos vorschlagen, nach denen ich vielleicht irgendwann einmal gesucht habe.

Eine weitere Folge kann aber jedenfalls auch die eigene Radikalisierung sein, die bei destruktiver Kritik, Schuldzuweisungen und persönlichen Untergriffen beginnt und bis zu Geringschätzung und Verachtung, Sarkasmus, Zynismus, Verhöhnung und Respektlosigkeit führt. Verachtung zielt auf die Verletzung des anderen und verhindert jeden problemlösenden Umgang miteinander.

Wie können wir widerstehen, uns andauernd nur mit Unseresgleichen umgeben zu wollen und uns nicht der Position meines Gegenübers auszusetzen? Das betrifft bei den meisten von uns sowohl den beruflichen als auch den privaten Alltag und ist deswegen wohl auch eine grundsätzliche Frage, die wir uns stellen sollten.

Wertschätzend miteinander umgehen

Es geht hier um die Frage des wertschätzenden Umgangs miteinander und einer ebensolchen Kommunikation. Im Rahmen einer Tagung der österreichischen Schönstatt-Bundesfamilien haben wir uns auch mit diesem Thema auseinandergesetzt. Pater Josef Kentenich hat dazu in zahlreichen Predigten und Vorträgen immer wieder etwas gesagt (siehe zum Beispiel „Die Ausformungen der Liebe“, aus: Manfred Gerwing/Herbert King [Hrsg.], Schönstatt-Studien, Band 7, Gruppe und Gemeinschaft). Er betont dabei die einfachen, selbstverständlichen Dinge, die immer wieder in Erinnerung gerufen werden müssen:

  • Mitdenken mit dem, was mein Gegenüber sagt
  • Ein Mitschwingen meiner Seele
  • Ein Ja-Sagen wenigstens zum Standpunkt meines Gegenübers
  • Ein aufrichtiger Glaube an den Wert dessen, was mein Gegenüber erstrebt und will
  • Ein fester Glaube an die persönliche Sendung des Gegenübers

Er spricht auch von der Notwendigkeit, immer neu auf die Menschen zuzugehen, die Initiative zu ergreifen. „Gemeinschaften“, so sagt er, „gehen fast immer auseinander, weil nicht geklärt werden kann, wer den Anfang macht, zum Beispiel bei der Versöhnung.“ Wohlwollen ausstrahlen, Kontaktfreude, Zeit haben zum Gespräch, zuhören, heraushören, mitleiden, dabei sein, sich einbringen und das von anderen Eingebrachte ernst nehmen und aufnehmen. Ehrliche Offenheit, nicht Beliebigkeit.

Im beruflichen Alltag erleben wir in der Schule oder bei Verhandlungen mit Politikern und Sozialpartnern auch immer wieder, dass es genau diese Eigenschaften sind, mit denen man verfahrene Situationen wieder lösen kann. Nicht das sture Beharren bringt da weiter, sondern das aufmerksame Zuhören und daraus den eigenen Standpunkt zu einer möglichen Lösung entwickeln.

All diese positiven Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens werden auch von modernen Psychologen und Psychiatern immer wieder betont, so zum Beispiel Reinhard Haller in: „Das Wunder der Wertschätzung: Wie wir andere stark machen und dabei selbst stärker werden“, GU-Verlag. Er zitiert darin den Beziehungsforscher John Gottmann, der in wenigen Punkten die wichtigsten Grundlagen für den dauerhaften Bestand einer Ehe skizziert hat. Einige dieser Punkte scheinen uns jedenfalls auch geeignet, andere Polarisierungen zu vermeiden oder zu überwinden:

Wenden Sie sich einander zu und nicht voneinander ab, das heißt, bleiben Sie in emotionalem Kontakt – auch im (manchmal anstrengenden) Alltag.

Lassen Sie sich von Ihrem Partner beeinflussen oder, anders ausgedrückt: Seien Sie kompromissbereit und machen Sie Zugeständnisse – nicht nur Ihre Meinung zählt.

Lösen Sie Ihre lösbaren Probleme und tolerieren Sie auch Fehler des anderen – es gibt einfach auch unlösbare Probleme.

Überwinden Sie Pattsituationen, das heißt, respektieren Sie grundlegende Persönlichkeitsunterschiede und überlegen Sie gemeinsam, wie Sie wiederkehrende, daraus sich ergebende Konflikte vermeiden oder angehen wollen.

Wie kommen wir heute aus den sich verschärfenden Polarisierungen heraus? Die Chance zur Veränderung liegt in unseren eigenen Händen, in der Selbsterziehung und in der Bereitschaft zur offenen Begegnung mit den Mitmenschen. Oder wie singen die Beatles? „We Can Work It Out“.

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Christine und Andreas Mörk

Seit 31 Jahren verheiratet, vier Kinder. Engagiert im Familienbund und in der Familienbewegung.

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Beitragsfoto: © pict rider · stock.adobe.com