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Da rief er ein Kind herbei

„Da rief er ein Kind herbei und stellte es in ihre Mitte“

Zur Bedeutung des Kindseins vor Gott

von Manfred Gerwing

„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“ Die Aussage
Jesu ist bekannt, wird oft zitiert, aber meistens gehörig missverstanden. Das immer wieder aufkommende Missverständnis: Hier werde eine Infantilisierung des Glaubens bis zur völligen Ausblendung der Vernunft gefordert. Doch das glatte Gegenteil ist der Fall. Wer sich als Kind Gottes weiß, erkennt Tiefstes und Höchstes, vor allem aber sich selbst. 

Jesus macht darauf aufmerksam: Wer vor Gott nicht Kind ist, geht in die Irre, verfehlt sein Ziel, erreicht nicht seine Vollendung. „Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr gewiss nicht in das Himmelreich eingehen“ (Mt 18,3).

Wahlkampf unter den Jüngern

Was war geschehen? Jesus hatte den Jüngern vom Königreich Gottes erzählt. Es komme mit ihm und durch ihn. Ja, es stehe unmittelbar bevor. Die Menschen und vor allem seine Jünger sollen sich darauf vorbereiten. Doch die Jünger verstanden ihn nicht. Sie dachten, Jesus sei dabei, bestimmte Schlüsselpositionen im Reich zu vergeben, und rückten sich ins Licht! Sie unterstrichen ihre eigene Bedeutung, ihre Kompetenz: Wahlkampf unter den Jüngern!

Jesus beobachtet das, ergreift die Situation und ruft zur Umkehr. Er verweist auf das neue Grundsatzprogramm des ankommenden Reiches Gottes: auf die Haltung der Kindlichkeit. Nur als Kind des himmlischen Vaters habt ihr überhaupt eine Chance, in das Himmelreich einzugehen. „Da rief er ein Kind herbei und stellte es in ihre Mitte“ (Mt 18,2). 

Die moderne Forschung hat inzwischen nachgewiesen, welch umstürzende Wirkung von dieser Aufwertung der Kinder und des Kindseins vor Gott durch Jesus ausging und noch heute ausgeht: bis hin zur UN-Kinderrechtskonvention. 

Erinnern wir uns:
In der paganen Antike wurden Kinder so gut wie nicht beachtet. Sie waren so gut wie nichts, waren noch werdende, noch längst nicht vollwertige und vollendete Menschen. Der altrömische Pater familias konnte die Kinder, wie alt sie auch immer waren, nach Gutdünken züchtigen, sogar töten. Neugeborene wurden ausgesetzt, Kinder welchen Alters auch immer konnten verkauft, verpfändet oder anderen Herren zu Dienstleistungen, nicht zuletzt sexuellen, zur Verfügung gestellt werden. Kinderprostitution war an der Tagesordnung. Ähnlich das germanische Recht. Auch hier konnte der Vater – nicht nur in Notfällen und bei Missbildungen – sein Kind aussetzen oder gar töten. 

Christen machten da nicht mit. Sie gingen einen neuen Weg: den Weg der Kindlichkeit; und veränderten die Welt. Sie wollten, dass Kinder leben, ihre Talente und Begabungen frei entfalten und hoffnungsvoll Zukunft gestalten.  

Gottes Abbild, schon vor der Geburt

Weil der Mensch Abbild Gottes ist, und zwar von vornherein, schon als Kind im Mutterleib, ergab sich ein klares Gebot, ein christliches Gegenprogramm. Es scheint bereits in der um 100 n. Chr. formulierten Zwölf-Apostel-Lehre auf: Du sollst nicht töten, nicht Knaben schänden und schon gar nicht ein Kind abtreiben oder das Geborene töten (vgl. A. Angenendt, Toleranz und Gewalt, 2018, 180).

Doch damit nicht genug: Jesus wollte nicht nur die Kinder vom ersten Augenblick ihres Lebens geschützt, aufgewertet und beachtet wissen. Er wollte den Menschen offenbaren, wer und was sie vor Gott im Tiefsten und Eigentlichen sind: seine geliebten Kinder.  

Manfred Gerwing

Professor Dr., Lehrstuhlinhaber für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Mitglied des Schönstatt Familienbundes Deutschland. Papst Franziskus verlieh ihm 2019 den Gregorius-Orden.

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Beitragsfoto: © Syntetic Dreams · stock.adobe.com

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