Damit sich Geschichte nicht wiederholt
Wie sich die Gemeinschaft Sant’Egido für Erinnerungskultur engagiert
von Matthias Leineweber
Ein unvergesslicher Eindruck begleitet mich im Zusammenhang mit einem Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau Anfang September 2009, 70 Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, während einer Gedenkveranstaltung im Rahmen des Internationalen Friedenstreffens, das Sant’Egidio jährlich in der Nachfolge des Treffens der Weltreligionen in Assisi 1986 organisiert. Am Denkmal der Vernichtung in Birkenau sprach der ehemalige Oberrabbiner des Staates Israel, Israel Meir Lau, ein Verfolgter und Überlebender der Shoah, über die eigenen Erfahrungen. Er habe einmal bei einem Besuch des Konzentrationslagers Buchenwald, wohin er als Kind deportiert worden war, in einer Baracke in die Wand eingeritzt das hebräische Wort für Rache gelesen, das ein Häftling vielleicht als letztes Wort vor seiner Ermordung hinterlassen hatte. Doch seine Antwort sei das Leben, fügte er hinzu, denn das sei ihm bewusst geworden, als am Morgen dieses Tages der Gedenkfeier sein Urenkel geboren wurde. Diese Art des Gedenkens führte zu einer inneren Ergriffenheit, die ein starker Anstoß geblieben ist, sich weiter mit der Geschichte der Verbrechen des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.
Gedächtnis und Geschichte
Wie kann Erinnerung an geschichtliche Ereignisse und ein angemessenes Gedenken daran aussehen? In diesem Zusammenhang unterscheidet Paul Ricœur in seinem 2004 erschienenen Buch „Gedächtnis, Geschichte, Vergessen“ zwischen einer kognitiven und pragmatischen Dimension des Gedächtnisses, was in Bezug auf die Erinnerungskultur der geschichtlichen Ereignisse und entsetzlichen Verbrechen des Dritten Reiches hilfreich ist. Es geht nämlich darum, nicht nur ein Bild des Vergangenen aufzunehmen, es muss auch gesucht und etwas getan werden, um zu einem vollkommeneren Erinnern zu gelangen. Daher muss die Person einen Akt vollziehen, um einen Bezug zum Geschehenen herzustellen. Dies gilt beispielsweise in Bezug auf ein Bild oder einen Schrifttext, deren Aussagen aktualisiert werden müssen in einer „unabschließbaren Arbeit der Kontextualisierung und Rekontextualisierung“. Dabei sind das Hinhören und Zu-Wort-kommen-lassen von Betroffenen und Zeugen für das Erinnern und Verstehen von grundlegender Bedeutung.
Hierin liegt die Aufgabe und Verantwortung in Bezug auf die Schrecken des Nationalsozialismus, die eine Interpretation der Geschichte erforderlich machen. „Niemand ist tot, solange man über ihn spricht“, überschreibt Michael Fürst einen kurzen Beitrag zu diesem Thema im von Hans Erler herausgegebenen Buch „Erinnern und Verstehen“ und zitiert damit eine alte jüdische Weisheit. Daher muss, wie es jüdische Vertreter fordern, verhindert werden, dass das Leben nach Auschwitz so fortgesetzt wird, als habe sich das Ereignis nicht zugetragen.
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