Das Krisenphänomen Vereinzelung
von Ulrich Emge
Es ist kaum noch auszuhalten: Seit Jahren jagt eine Krise die nächste: Die US-Immobilienkrise (2006), die daraus resultierende weltweite Bankenkrise (2007), die Lehman-Pleite (2008) und in der Folge die weltweite Wirtschaftskrise (2009) waren für die Menschen in Deutschland gefühlt noch etwas weiter weg. Die Herausforderungen rückten in der Folge die Euro-Schuldenkrise (2010/2011), der Brexit und schließlich die Flüchtlingskrise uns immer näher. Doch damit nicht genug. Die Klimakrise polarisierte weltweit. Immer mehr Autokraten auf der politischen Weltbühne wenden sich von einer demokratischen Meinungsbildung ab und versuchen, die anstehenden Probleme im Alleingang und nur noch zum Vorteil ihres Landes zu lösen. Die Coronakrise zwang ganze Gesellschaften durch die gesundheitspolitischen Maßnahmen zu sozialer Distanzierung, von der niemand ahnen konnte, dass sie uns fast drei Jahre lang in eine bis dahin ungeahnte Situation der Isolation führen würde. Nahtlos ging diese extreme Krise in den Überfall Russlands auf die Ukraine über. Plötzlich ist Krieg in Europa, geführt von einer Atommacht, die immer wieder mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen drohte. Infolge dessen: Sanktionen, Gasknappheit, steigende Inflation, Sorgen um die Wirtschaft, die Angst, der Krieg könne sich auf andere europäische Länder ausweiten. In der Kirche führte die Veröffentlichung von sexuellen Missbrauchstaten im Canisius-Kolleg 2010 dazu, dass immer mehr Opfer den Mut fanden, ihr Schweigen zu brechen. Das ungeahnte Ausmaß schockiert uns bis heute und bedeutet für die Kirche eine massive Vertrauenskrise.
Solche Krisen gehen an uns nicht spurlos vorüber. Sie verändern etwas – im Individuum selbst, aber auch in der Gesellschaft. Der französische Literaturwissenschaftler, Kulturanthropologe und Religionsphilosoph René Girard schildert in seinem Buch „Der Sündenbock“, dass Krisen den Nährboden für unbewusst und irrational ablaufende Sündenbockmechanismen bilden. In der Gesellschaft gehen Krisen mit einer Schwächung der normal funktionierenden Institutionen einher, wodurch Massenansammlungen (Demonstrationen) und spontane Volksbewegungen begünstigt werden, „die darauf hinauslaufen, die geschwächten Institutionen ganz zu ersetzen oder entscheidend Druck auf sie auszuüben“. Zuletzt konnten wir das beobachten in den „Die-Ampel-mus-weg“-Rufen, massiv betrieben von populistischen politischen Parteien. Starke Schwächung oder gar der Zusammenbruch von Institutionen bergen die Gefahr in sich, dass hierarchische und funktionale Unterschiede getilgt werden oder aufeinanderprallen. Es kommt zu einem Durcheinander, in dem es keine Differenzen mehr gibt und die soziale Ordnung empfindlich gestört ist. Girard nennt das einen „radikalen Verlust des eigentlich Sozialen“. …
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