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Das Wunder menschlicher Zerbrechlichkeit

Stern in der Geburtskirche

Das Wunder menschlicher Zerbrechlichkeit

Eindrücke aus der Geburtskirche von Betlehem

von Hans-Martin Samietz

Ein Junge sitzt auf seinen Fersen auf dem Boden und blickt auf eine Wand. Viele Menschen knieen auf demselben Boden und halten ergriffen inne. Der Boden, von dem ich spreche, befindet sich in Betlehem. Es ist der Boden jenes Raumes, in dem die Geburt Jesu verehrt wird. Gemeinsam mit vielen anderen Felsenhöhlen befindet sich die Geburtsgrotte unter der großen Basilika, die mitten in Betlehem steht. Der konkrete Quadratmeter, an dem die Geburt Jesu verehrt wird, ist dort mit einem tortenbodengroßen Stern aus Silber markiert.

Unser Junge sitzt zwar im selben Raum, in dem sich auch der Stern befindet, doch sein Blick richtet sich in die andere Richtung an eben jene Wand. Das Getümmel der Pilger findet hinter dem Jungen statt. Hier auf dem Foto sehen wir nur ihn. Hinter ihm drängen sich im Moment, da der Fotograf den Auslöser drückte, die Pilgerinnen und Pilger beim Stern, berührten ihn, küssen ihn.

Davon bleibt der Junge unbeeindruckt. Was ihn interessiert, ist die Wand vor ihm. Dort hängen mehrere Ikonen. In einer für den Jungen typischen Haltung betrachtet er die ihm wohl etwas fremde Bildkunst. Als werde er gleich seine Legobausteine ausbreiten, so sitzt er da auf dem Boden und schaut auf die Wand.

Was macht dieser Ort mit Menschen?

Ich bekam dieses Foto vom Vater des Jungen gezeigt. Er und sein Sohn waren Teilnehmer einer Israelpilgerreise, die ich vor einigen Jahren begleiten durfte. Dieser Ort irgendwo im Autonomiegebiet, mit dem Stern aus Silber, der Ikonenwand und dem Marmorboden, was macht dieser Ort mit Menschen? Einige Minuten hatte ich Gelegenheit, das dort zu beobachten.

Nicht viele der Besucher und Besucherinnen haben das Kreuzzeichen im Repertoire ihrer persönlichen Gesten. Doch jede Person kniete. Viele küssten den Stern. Gestandene Männer wollten unbedingt fotografiert werden, wie sie den Stern berühren.

Was macht dieser Ort mit Menschen? Ob wir auf den Jungen schauen oder auf die vielen Erwachsenen hinter ihm, dieser Ort führt Menschen an etwas heran, was tief in ihnen als Sehnsucht vorhanden ist: sich einfach ungefragt lieben zu lassen. …

Hans-Martin Samietz

Mitglied der basis-Redaktion.
Schönstatt-Pater.

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Foto: © privat