Den seelischen Spielraum erweitern
Wie Pater Josef Kentenich das spirituelle Reifen junger Menschen förderte
von Hans-Martin Samietz
Die Herausforderung für die Selbsterziehung ist die Selbsttäuschung. Decken sich Selbst- und Fremdwahrnehmungen über die Möglichkeiten oder das tatsächliche Verhalten einer Person, täuscht diese sich über sich selbst. Die Gründe dafür können sehr vielfältig sein. Oft haben Selbsttäuschungen eine Schutzfunktion für den Menschen, der sich täuscht oder – besser gesagt – täuschen will. Manchmal sind Selbsttäuschungen aber einfach nur das Ergebnis einer sehr interaktionsarmen Umwelt für eine Person, weil das Feedback vieler anderer Personen fehlt.
Normalerweise jedoch lieben wir Menschen es, mit anderen Menschen in Fühlung zu sein, und greifen so ganz natürlich dauernd Feedback ab. Deshalb kann als Motivation für Selbsterziehung im Kontext spiritueller Bildung – wie sie am Studienheim der Pallottiner in Vallendar-Schönstatt durch Pater Josef Kentenich betrieben wurde – ein kontinuierliches Feedback über das Ausreifen der Persönlichkeit hin zu einem festen, freien, christlichen Charakter, behauptet werden, bei dem sich Selbst- und Fremdwahrnehmung in einer gewissen Harmonie befinden. Kurz gesagt ist also das Ziel von Selbsterziehung, den Spielraum der eigenen Seele durch das wohlwollende Feedback anderer Personen zu erweitern. In einer von ihrem Träger geweiteten Seele könne Gott nämlich eher zum Vorschein kommen als in einer verengten Seele. Ein solcher Zusammenhang war Josef Kentenich wichtig, als er sich auf seine Antrittsansprache als neuer Spiritual am Studienheim der Pallottiner in Vallendar-Schönstatt vorbereitete:
„Selbsterziehung ist ein Imperativ der Zeit. Man braucht nicht sonderlich viel Welt- und Menschenkenntnis zu haben, um sich klar darüber zu werden, daß unsere Zeit mit all ihrem Fortschritt, mit allen ihren Entdeckungen den Menschen die innere Leere nicht nehmen kann. …Da gibt es keine, oder doch wenigstens keine neuen Methoden zur Durchleuchtung der menschlichen Seele. ‘Alle Gebiete des Geistes sind kultiviert, alle Vermögen erstarkt, nur das tiefste, das innerlichste, das wesentlichste der unsterblichen Seele ist nur zu oft ein unbebautes Land‘.“
(Aus seiner Antrittsansprache als neuer Spiritual vor den Schülern des Studienheimes vom 27. Oktober 1912)
Begegnungskultur als Schlüssel zu Gott
Der Nächste oder im Fall des Studienheimes, der Mitschüler, war also Gelegenheit, sich in neuer Weise Gott zu nähern. Diese Gelegenheiten wollte Josef Kentenich mit seinen ausgesprochen hohen pädagogischen und spirituellen Intuitionen als neuer Spiritual fördern. Dafür ermöglichte er am Studienheim eine neue Art der Begegnung. Er regte die Schüler an, einen eigenen Verein zu gründen. Dieser war zunächst ein Missionsverein. Nach etwa einem Jahr wurde dieser Verein dann aber in eine etabliertere Gemeinschaftungsform von jungen Menschen, nämlich in eine Marianische Kongregation überführt. Die Jugendlichen hatten jetzt Versammlungen auf Kongregations-, auf Sektions- und auf Gruppenebene zu organisieren und sowohl Themen als auch Projekte zu finden, in die sie sich innerlich investieren wollten. Sie konnten als Mitglied der Marianischen Kongregation nicht anders, als sich unter dem Vorzeichen spiritueller und inhaltlicher Auseinandersetzungen einander zu begegnen.
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