Der gefallene Papst?
Wie ein Medienhype ein Lebenswerk in Frage stellen kann
von Hubertus Brantzen
„Der Papst lügt!“ – diese Überschrift wurde zur Weltsensation, als nach dem Gutachten über sexuellen Missbrauch im Bistum München der emeritierte Papst Benedikt XVI. an den Pranger gestellt wurde. Hintergrund: Er hatte behauptet, während seiner Zeit als Erzbischof von München-Freising in einer Sitzung des Erzbischöflichen Ordinariats nicht anwesend gewesen zu sein. Wie sich herausstellte, hatten Mitarbeiter des inzwischen 94-Jährigen falsch recherchiert. Allerdings stellte sich ebenfalls heraus, dass in dieser Sitzung nur darüber befunden wurde, dass ein in Therapie befindlicher Priester in einem Pfarrhaus wohnen könne. Von dessen Missbrauch war keine Rede. Auch in den vier Missbrauchsfällen, die man dem Bistum unter seiner Führung zur Last legte, war es nicht möglich, für Ratzingers Wissen um die Vorgänge Beweise zu liefern.
Und trotzdem: „Der Papst lügt!“ Wenn einmal eine solche spektakuläre Nachricht in die Welt gesetzt ist, kann sie nicht mehr zurückgeholt werden. Nachgereichte Klarstellungen wirken in der Öffentlichkeit wie Rechtfertigungen, von denen jeder halten kann, was er will. Und außerdem meinen nicht wenige: Dieser konservative Papst bekommt endlich gesagt, dass er auch auf diesem Feld kläglich versagt hat!
Klarstellungen
Trotzdem seien einige Hinweise gegeben, wie dieser Papst tatsächlich in Sachen sexuellen Missbrauchs agierte. In der „Neuen Züricher Zeitung“ von 1. Februar 2022 bezeugt Manfred Lütz, wie er aus nächster Nähe die Bemühungen Papst Benedikts erlebte. Seit 1999 habe der damalige Kardinal Ratzinger die Opferperspektive betont und nicht mehr nur das Ansehen der Kirche als bestimmendes Motiv im Umgang mit der Frage gelten lassen. Er erreichte, dass die Zuständigkeit für das Thema aus der Kleruskonkregation in die Glaubenskongregation überging, dessen Leiter Ratzinger selbst war. Dieser initiierte 2003 einen ersten vatikanischen Kongress zu der Frage. Nachdem er dann 2005 zum Papst gewählt worden war, traf er sich nachweislich mit Opfern sexueller Gewalt. Damit war es genau dieser Kardinal Ratzinger, der die Frage des sexuellen Missbrauchs auf die Tagesordnung der katholischen Kirche brachte.
Freilich, seine in der Öffentlichkeit etwas unbeholfene Art und sein Ehrgeiz, Ansprachen und Referate nur selbstverantwortlich und ohne Korrektur durch Fachleute zu erstellen, brachten ihn nicht selten in Misskredit. Nach dem mediengewandten Johannes Paul II. kam er eher als trockener Theologe in der kirchlichen und weltlichen Öffentlichkeit rüber. Seine deutlich erkennbare konservative Ausrichtung, etwa im Umgang mit der alten Liturgie, brachten ihm den Stempel ein: fromm, aber nicht so ganz von dieser Welt, zumindest nicht von der heutigen.
Da konnte es leicht passieren, dass über seine teilweise brillanten Enzykliken und Apostolischen Schreiben, etwa „Deus caritas est“, nicht mehr geredet wurde. Die drei herausragenden Bände „Jesus von Nazareth“ gehen dann schnell vergessen.
Ein Thema „über dem Teppich“
„Der Papst lügt!“ – journalistisch eine „geniale“ Überschrift, die das Potential hat, Papst Benedikt endgültig vom Thron zu stoßen. Papst – der Inbegriff für moralische Autorität und für Unbestechlichkeit. Wenn der Papst zu einem Vorgang in der Kirche und in der Welt etwas sagt, hat das Gewicht. Mag es beim Fußvolk der Kirche und in den Reihen der Amtsträger noch so brodeln, dem Papst traut man zu, die Sache zu richten, einen Prozess in Gang zu bringen, uneigennützige Entscheidungen zu treffen. So wenigstens bei den bislang letzten Päpsten bis einschließlich Papst Franziskus.
Wenn nun der so konnotierte Begriff „Papst“ mit dem Verb „lügen“ zusammengebracht wird, ist das ein gefühlter Widerspruch in sich – zunächst. Ein Papst, der lügt, so würde man heute formulieren, das geht überhaupt nicht. Wie ein Hohn kommt einem dann der Artikel „Katholiken erleichtert – nur jeder zweite Papst lügt“ vor, ein Beitrag von Jean Gnatzig im Satiremagazin der „Welt“. Ich weiß, das alles ist höchst richterlich erlaubt. Doch witzig finde ich es trotzdem nicht.
Um es klarzustellen: Wer sexuellen Missbrauch bagatellisiert, gehört wirklich vom Thron geholt! Wer Täter wegen eines „höheren Gutes“, etwa dem Ansehen der Kirche, in Schutz nimmt und aus dem Kreuzfeuer holt, macht sich mitschuldig. Wer die Leiden der Opfer kleinredet und missachtet, ist selbst nahe am Missbrauch. Doch das Joseph Ratzinger und Benedikt XVI. nachzusagen, bedeutet Geschichtsklitterung. Gerade er war es, der das Thema nicht mehr unter den Teppich kirchlicher Interessen kehren wollte. Er holte es unter dem Teppich hervor und machte es bewusst über dem Teppich zum schwerwiegendsten und für die Kirche peinlichsten Thema der jüngeren Kirchengeschichte.
Verhältnismäßigkeit
Wenn es um Anklagen wegen irgendwelcher Delikte geht, wenn abgewogen werden muss, ob private oder staatliche Maßnahmen angemessen sind, taucht regelmäßig das Wort „Verhältnismäßigkeit“ auf. Wir haben es in den Jahren der Coronapandemie erlebt: Die Einschränkung von Freiheitsrechten der Bürger musste „verhältnismäßig“ sein.
Ich bin der Meinung, dass in der Beurteilung der Lebensleistung von Joseph Ratzinger genau dieser Begriff eine Rolle spielen sollte. Ich bin überzeugt, dass er ein ehrlicher Mensch und Papst war. Ich meine, wenn ein damals 94-Jähriger nicht jede Einzelheit seiner Tätigkeiten präsent hat, ist ihm das nachzusehen. Die schnelle Degradierung zum Lügner ist alles andere als verhältnismäßig. Ich hätte da eher meine Anfragen an seinen Beraterstab.
Man mag zu seiner kirchenpolitischen Ausrichtung stehen wie man will, man mag seinen Umgang mit der Piusbruderschaft oder der tridentinischen Messe für verfehlt halten, man mag über die von ihm in Freiburg geforderte „Entweltlichung der Kirche“ den Kopf schütteln – und man muss zu Recht über den Umgang mit Missbrauchsopfern im Bistum München und anderswo entsetzt sein. Dennoch sollte eine Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben im Blick auf die Beurteilung seiner Person.
Was bleibt
Ohne Fehler, Fehlentwicklungen oder Fehlhaltungen in der Kirche wegzuschieben, bleibt mir persönlich die Erinnerung an Joseph Ratzinger als einen großen Theologen des 20. Jahrhunderts. Als ich mit meinem Theologiestudium 1968 begann, war gerade sein Buch „Einführung in das Christentum“ erschienen. Es waren Vorlesungen zum Apostolischen Glaubensbekenntnis, die er im Sommersemester 1967 beim Studium generale in Tübingen gehalten hatte. Ich kann mich noch heute an das Gefühl der Ehrfurcht erinnern, das ich im Blick auf dieses vielgepriesene Werk hatte. Das war auch Joseph Ratzinger.
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