0261.604090

„… der über Israel herrschen soll“

„… der über Israel herrschen soll“

Persönliche Eindrücke aus dem heutigen Betlehem 

von Valentin Frisch

„Zu Betlehem geboren ist uns ein Kindelein…,“ singen wir Jahr für Jahr an Weihnachten und erinnern uns daran, dass Gott eine Stadt, die heute im palästinensischen Autonomiegebiet liegt, auserkoren hat, um dort Mensch zu werden. „Denn du, Betlehem-Efrata, so klein unter den Scharen Judas, aus dir wird für mich hervorgehen, der über Israel herrschen soll,“
(Mi 5,1) heißt es in der Verheißung im Alten Testament. Die Stadt Davids! Wo sonst hätten die Evangelisten die Menschwerdung Gottes ansiedeln sollen?

„Apartheid“

Ich gehe durch die schmalen Gassen Betlehems. Über kleinen Öfen wird an den Häuserfassaden Fleisch gebraten, Fotos werden mit dem iPad gemacht, und man schiebt sich in Richtung der Geburtskirche. Ich bin mittendrin in diesem Strom aus Touristen. Innerlich habe ich doch ein anderes Ziel. Mit meiner Studentengruppe bin ich aus dem zehn Kilometer entfernten Jerusalem gekommen. Seit nicht einmal zwei Wochen lebe, studiere, bete und bin ich dort, denn ich absolviere dort gerade ein theologisches Intensivstudium. Meine Studentengruppe erreicht Betlehem an diesem Tag über den Checkpoint 300.

Wir sind auf dem Weg zu Mitri Raheb. Er ist evangelischer Pfarrer an der Weihnachtskirche in Betlehem, Araber, in Marburg promovierter Theologe und scharfer Gegner von dem, was er Apartheid nennt. Das Kairos-Palästina-Dokument, das er einige Jahre zuvor mitverantwortete, und seine steten Bemühungen um ein Ende dessen, was die Palästinenser als Besatzung erleben, brachten ihm 2008 den Aachener Friedenpreis ein – und den Hass Israels.

Nach diesem Treffen geht es wieder hinaus auf die vollen Straßen. Amerikaner in Shorts und arabische Obstverkäufer, Duft von arabischem Kaffee mit seiner leichten Kardamomnote. Nachdenken über das Gehörte steht jetzt leider nicht auf dem Programm. Stattdessen eine archäologische Führung in der Geburtskirche. Die ältesten Teile stammen aus dem vierten Jahrhundert. „Apartheid“, hallt es in meinem Kopf nach. Im vorderen Bereich steige ich hinab in die Geburtsgrotte. Sie ist irgendwie heimelig, ein wenig eng und, ach ja, heilig. Denn der „Friedensfürst“, er wird aus Betlehem kommen aus demselben Dorf, das ich eben besuche.

Die einen und die anderen

Historisch anders verhält es sich mit Efrata. Denn das gibt es heute wieder. Es liegt seit 1983 wenige Kilometer entfernt im Etzion-Block. Südlich von Jerusalem leben dort knapp 60.000 Israelis, mitten in Palästina, mitten in der Heimat von Mitri Raheb. Er spricht von Besatzung, sie vom Land ihrer Väter. Der Etzion-Block gilt als eine der Speerspitzen fundamentalistischer Siedler, die alles tun, die den Palästinensern in den umliegenden Städten wie Betlehem das Leben schwer machen. Dabei soll der, „der über Israel herrschen soll“, eben doch aus dem jetzt von einer Mauer abgeschirmten Autonomiegebiet der Palästinenser kommen. Eine Woche nach meinem Besuch in Betlehem ersticht an der Etzion-Kreuzung nahe Efrata ein Jugendlicher einen Israeli. Der eine hatte vier Kinder, der andere keine Hoffnung. …

Valentin Frisch

studiert Theologie, Geschichte und Religionswissenschaften an der Universität Freiburg. Zwei Auslandssemester in Jerusalem. Er ist mit halber Stelle Bildungsreferent für die SMJ in der Erzdiözese Freiburg.

Download basis → Shop


Foto: © privat