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Der Wutbürger will mitbestimmen

Über politische Partizipation und ihre Grenzen

von Joachim Söder

Das Schlagwort von der Politikverdrossenheit ist in den letzten Jahren so häufig genannt worden, dass es selbst schon wieder verdrießlich stimmt. „Die da oben“ machen ja sowieso, was sie wollen – so die resignative Haltung, die schnell in Wut umschlagen kann. Pöbeleien gegen Repräsentanten des politischen Systems, auf Demonstrationen mitgeführte Galgen mit den Namen von Spitzenpolitikern: Wo der verbreitete Verdruss über „das Establishment“ und „die abgehobenen Eliten“ sich eruptiv Bahn bricht, zeigt die Ohnmachtserfahrung ihre hässliche Fratze. Die Wut ist die Kehrseite des Gefühls: Ich werde ja sowieso nicht ernst genommen, es wird doch eh über meinen Kopf hinweg entschieden, ich kann nichts machen.

Maßnahmen gegen Politikverdrossenheit

In regelmäßigen Abständen hört man als Gegenmaßnahme aus dem Politikbetrieb zwei Vorschläge: Wir müssen das Wahlalter auf 16 Jahre (oder sogar noch weiter) absenken, damit junge Leute mitentscheiden können und gar nicht erst verdrossen werden. Und: Wir brauchen mehr direkte Demokratie. Beide Vorschläge zielen darauf ab, Menschen das Gefühl zu vermitteln, etwas bewirken zu können.

Allerdings zeigen die Erfahrungen mit Selbstbeteiligungsformen junger Menschen etwa in Jugendparlamenten, dass nur ein verschwindender Teil sich angesprochen fühlt, tatsächlich am Gestaltungsprozess aktiv mitzuwirken. Wenn das schon auf kommunaler Ebene so ist, wo Veränderungen – der Bau eines Spielplatzes, die Einrichtung eines Jugendtreffs – konkret erlebt werden könnten, um wieviel weniger attraktiv dürfte es sein, wenn Minderjährige auf Bundesebene alle vier Jahre wählen dürften. Doch warum sollte man jungen Menschen, die aus guten Gründen noch keinen Pkw fahren und keine Ratenkredit abschließen dürfen, die Entscheidung über die Zusammensetzung des Bundestags zugestehen? Können sie, denen im privaten Bereich der vollumfängliche Überblick über die Folgen ihres Handelns abgesprochen wird, diesen im öffentlichen Bereich verantwortungsvoll wahrnehmen? Bei näherer Betrachtung scheint das Wahlrecht für Minderjährige eher die Tendenz zu haben, Demokratie zu infantilisieren als sie attraktiv zu machen.

Auch der zweite Vorschlag zur Behebung der Politikverdrossenheit hat seine bedenkliche Seite. In einigen Bundesländern, etwa in Bayern, gab es Elemente direkter Demokratie – Volksbegehren, Volksentscheide und dergleichen – schon seit der Nachkriegszeit. Andere Bundesländer haben sie erst in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten eingeführt. Die Abstimmungsbeteiligungen zeigen deutlich, dass Plebiszite keineswegs als Mittel der Selbstwirksamkeitserfahrung des einfachen Bürgers gesehen werden. Viele Bürgerbegehren scheitern bereits an der vom Gesetz geforderten Mindestbeteiligung. Sie auf Bundesebene einzuführen, hieße aber auch, ein weiteres Einfallstor für populistische Stimmungsmache zu öffnen. 

Erfahrungen beim Brexit-Votum

Besonders eindringlich hat dies das britische Brexit-Votum vor Augen geführt, bei dem am 23. Juni 2016 eine knappe Mehrheit der Wähler gegen den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union stimmte. Die dafür in der öffentlichen Debatte angeführten Argumente waren teils hanebüchen und entbehrten nicht selten einer Wahrheitsgrundlage. So behauptete Boris Johnson, das Vereinigte Königreich würde jede Woche 350 Millionen Pfund nach Brüssel überweisen (ITV News 11. Mai 2016) – eine Zahl, die sich später als haltlos erwies (The Guardian 10. Juni 2016). Der knappe Wahlausgang hat das Land tief gespalten: den 51,9% „Gewinnern“ stehen 48,1% „Verlierer“ gegenüber. Dass der damalige Volksentscheid Großbritannien, aber auch der EU, schweren Schaden zugefügt hat, zeigt sich nach zweieinhalb Jahren quälender Austrittsverhandlungen deutlich.

Grenzen der direkten Demokratie

Und noch aus einem anderen Grund sind Elemente direkter Demokratie auf nationaler Ebene problematisch. Denn anders als an Stammtischen bisweilen vermutet, gilt in einem demokratischen Rechtsstaat das Prinzip „Mehrheit siegt“ nicht uneingeschränkt. In einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gelten Minderheitenrechte, die der Mehrheitsabstimmung entzogen sind, um des friedlichen Zusammenlebens aller Bürgerinnen und Bürger willen. So dürfen religiöse, sprachliche oder kulturelle Minderheiten – die Mennoniten, die Sorben, die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein – ihre spezifische Identität leben, ohne von der Mehrheitsgesellschaft zur Aufgabe gezwungen werden zu können. Es waren harte und blutige geschichtliche Lernerfahrungen, die dazu geführt haben, dass um der Freiheit und Humanität willen bestimmte Bereiche des menschlichen Zusammenlebens geschützt und der demokratischen Mehrheitsentscheidung entzogen sein müssen.

Genau vor diesen Bereichen würde aber das politische Instrument der direkten Demokratie schwerlich haltmachen. Die Schweiz, scheinbar ein Musterland basisdemokratischer Kultur, hat mit einer Volksabstimmung 2009 die Aufnahme eines Bauverbots für Minarette in die Eidgenössische Bundesverfassung erzwungen. Eine solche in der Verfassung verankerte Diskriminierung der kulturellen Ausdrucksform einer Religionsgemeinschaft dürfte in westlichen Demokratien beispiellos sein und ist, wie selbst das Schweizer Bundesgericht urteilte, ein Verstoß gegen die Menschenrechte. 

Würden in Deutschland nationale Volksentscheide eingeführt, die Zahl der populistisch ausschlachtbaren Themen wäre heute schon groß: Wenn der Verfassungsminister im Fall eines rechtswidrig abgeschobenen Tunesiers das Gerichtsurteil, das der Verfassung Geltung verschafft, mit den Worten kritisiert: Richter sollten „im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen“ (DIE ZEIT 16. August 2018), dann ist das ein deutliches Alarmsignal, dass Menschenrechte in Gefahr sind, wo der Volkszorn wütet – diese Verhältnisse hatten wir in Deutschland schon einmal.

Unsere Volksvertreter

Dies ist kein Plädoyer gegen jegliche Art von Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie. Überall da, wo die unmittelbare Lebenswelt der Menschen betroffen ist, auf lokaler, kommunaler und selbst noch in bestimmten Bereichen auf Länderebene, sind Plebiszite ein wichtiges politisches In-strument, damit Menschen den konkreten Nahbereich ihres Lebens so gestalten können, wie sie es wollen. Aber es hat schon seinen Sinn, dass wir hinreichend gut bezahlte Repräsentanten wählen, die sich in hochkomplexe Sachfragen wie etwa die Besteuerung transnationaler Dienstleistungen einarbeiten, um dann, ihrem Gewissen verpflichtet, stellvertretend für uns abstimmen. Dies ist keine Entmündigung des Bürgers, sondern eine Entlastung. Sie dient der Versachlichung der politischen Entscheidung. Und wer mit seinen Mandatsträgern unzufrieden ist, der kann sie ja alle vier oder fünf Jahre wieder abwählen.

 

Joachim Söder

Dr. phil., Professor für Philosophie, beschäftigt sich mit Fragen von Menschenwürde und Gerechtigkeit. Vorstandsmitglied des Josef-Kentenich-Instituts.

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