0261.604090

Die Pilatusfrage

Die Pilatusfrage

Eine theologische Betrachtung über die Wahrheit

von Lukasz Pinio

Bevor Pilatus seine berühmte Frage stellt – „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38) – führt er ein kurzes Gespräch mit dem Angeklagten Jesus, der in Begleitung seiner Jünger nach Jerusalem gekommen ist, um gemeinsam das Passahfest zu feiern: die Erinnerung an die von Gott geschenkte Freiheit. Der römische Präfekt von Judäa fragt ihn zunächst, ob er tatsächlich König sei, wie andere ihm berichtet haben. Es beginnt ein Gerichtsverfahren, das mit unterschiedlichen, stark polarisierten Meinungen verbunden ist, die oft in starkem Widerspruch zueinander stehen: Wer hat Recht? Genau in diesem Moment stellt sich die Frage nach der Wahrheit – in diesem konkreten Fall im Zusammenhang mit religiösen Überzeugungen. Es scheint, dass Pilatus‘ Frage das Wesen des Glaubens selbst betrifft. Wie kann man erkennen, dass er richtig ist? Dass ich nicht einen Weg einschlage, der in die Irre führt.

Diese Frage gehört zu den philosophischen Überlegungen über Glauben und Rationalität. Ist nur das wahr, dessen man sich absolut sicher ist? Beginnen wir jedoch mit der Wahrheit und ihrem Zusammenhang mit der Rationalität. Ist man nur dann rational, wenn man nur solche Ansichten vertritt, deren Wahrheitsgehalt man sich vollkommen sicher ist? Diese klassisch verstandene Rationalität war in der Fundamentaltheologie bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil formal vorherrschend, woraufhin es zu einem wichtigen Paradigmenwechsel im Verständnis des Glaubens kam.

Wenn der Glaube in erster Linie inhaltlich als eine Sammlung offenbarter Aussagen verstanden wird, dann gewinnt die Frage nach ihrer Wahrheit – oder, wie wir heute sagen würden, nach ihrer Rechtfertigung – stark an Bedeutung. Aus diesem Grund beschäftigte sich die theologische Apologetik vor diesem Konzil damit, Argumente für die Wahrheit der These von der Existenz Gottes zu erarbeiten. Die Wahrheit wurde gemäß der Korrespondenztheorie als Gleichsetzung von Intellekt und Sache verstanden – oder eher in semantischer Form formuliert, als Übereinstimmung zwischen einer Aussage (die eine sprachliche Darstellung eines intellektuellen Urteils ist) und der durch sie beschriebenen Realität.

Das Problem einer so verstandenen Rationalität hängt nicht nur mit den epistemischen Grenzen des menschlichen Verstandes zusammen, der durch sein Erkennen die erkannte Realität beeinflusst (vgl. Heisenbergs Unschärferelation), sondern auch mit der Grenze des Verifikationismus – der Unmöglichkeit, angenommene Aussagen induktiv zu begründen. In Bezug auf die Theologie wurde festgestellt, dass es unmöglich ist, die Richtigkeit der Behauptung zu beweisen, dass Gott – klassisch definiert – tatsächlich existiert. Erschwerend kommt hinzu, dass in seinem Fall ein einfacher Verweis auf die Erfahrung nicht ausreicht: Gott ist gemäß der angenommenen Definition schließlich ein transzendentes Wesen. 

 

(Einzelausgabe kaufen für 3,80 € oder abonnieren)

 

Lukasz Pinio

„Schönstätter Marienschwester, seit 1954 in Südafrika. Ab 1971 Professorin für Afrikaans und Historische Sprachwissenschaft an der Wits University in Johannesburg und zugleich über 20 Jahre Mitaufbau der Schönstatt-Familienbewegung in der Metropole. Seit 1982 Leitung jährlicher CBM-Kurse in Christlicher Unternehmensführung nach CENEM und der Kentenich-Lehre – zunächst in Südafrika, später auch in Südamerika und Europa.“

Download basis → Shop


Beitragsfoto: © Maria Vitkovska· stock.adobe.com