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Die Stadt macht etwas mit einem 

Die Stadt macht etwas mit einem 

Erkundungen auf den Wegen nach und in Berlin

von Felix Geyer

Warum ich in Berlin lebe? Ich bin nicht von heute auf morgen in die Hauptstadt gezogen. Der Wechsel vollzog sich auf Raten über einige Jahre hinweg. Zunächst waren es freundschaftliche Besuche und immer mal wieder eine Tagung, die in der Hauptstadt stattfand, die  mich hierher führten. Für das Erstellen meiner Dissertation und die Mitentwicklung des neu gegründeten Campus für Theologie und Spiritualität (www.cts-berlin.org), kam ich in den vergangenen Jahren regelmäßiger in die Stadt und verlagerte schließlich auch meinen gesamten Lebensmittelpunkt nach Berlin. Von Anfang an verbinde ich mit dieser Stadt sehr unterschiedliche, teilweise sogar gegensätzliche Emotionen. Da Eindrücke der Stadt wohl immer sehr subjektiv sind, will ich verschiedene dieser Eindrücke und Ambivalenzen beschreiben und jeweils der Frage nachgehen, was das eigentlich an mir verändert und mit mir macht.  Das war vom ersten Berlinbesuch an klar: Diese Stadt macht was mit einem. Dass natürlich nicht Berlin als Stadt etwas macht, sondern es ein komplexer Wirkungszusammenhang ist, ist, was Berlin so besonders macht.

Unübersichtliche Vielfalt 

Der erste Eindruck, den Berlin vermittelt ist die unübersichtliche Vielfalt von allem. Sie ist sichtbar und spürbar. Sprache, Herkunft, Kultur, aber auch Milieu, Kleidungstil und Auftreten: Auf dichtem Raum herrscht das Nebeneinander von Verschiedenheit und zwar in einer Art, dass ein Durchschnittsstil nicht mehr auszumachen ist. Keine Ahnung, was die Einzelnen bewegt – eine soziologische Studie habe ich noch nicht dazu durchgeführt – aber es scheint, als ob es keinen Maßstab gäbe, an den man sich anpassen könnte. Am ehesten, so scheint mir, ist dann noch die Unterschiedlichkeit  ‚normal‘. Andreas Reckwitz, Soziologe an der Humboldt-Universität Berlin, beschriebt in mehreren seiner Bücher (Gesellschaft der Singularitäten 2017; Das Ende der Illusionen 2019), dass sich die (deutsche) Gesellschaft von einer an bürgerlichen Kategorien orientierten Mittelstandsgesellschaft hin zu einer Gesellschaft der Singularitäten entwickelt hat. 

Diese Singularitäten sind dadurch gekennzeichnet, dass Menschen das Besondere suchen. Das hieße zum Beispiel, dass weniger die Frage „Was bedeutet dieses oder jenes Phänomen?“ gestellt wird, sondern nun die Frage lautet: „Was bedeutet das für mich?“. Alle anderen gesellschaftlichen Kategorien werden in der Folge, zwar nicht absolut, aber der Tendenz nach, diesem Maßstab der identitätswirksamen Besonderung nachgeordnet. Dieses Moment der Besonderung kommt mir in den Sinn, wenn ich versuche, die Vielfalt in Berlin zu beschreiben und die Wirkung, die diese Vielfalt bereithält, zu verstehen suche. Es verändern sich durch die Stadt nach und nach die eigenen Maßstäbe , und die nagende Frage des „für mich“ wird zu einer erfahrbaren Kategorie. Mir kommt schnell in den Sinn, dass in einer solchen zunehmenden Besonderung „das Gemeinsame“, bzw. geteilte Wertvorstellungen ja verloren gehen könnten oder an Bedeutung verlieren. 

Felix Geyer

Jahrgang 1986, ist Schönstatt-Pater. Er arbeitet als Sozialethiker und Studienganzskoordinator am neu gegründeten Campus für Theologie und Spiritualität in Berlin.

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