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Die Zeichen der Zeit deuten

Die Zeichen der Zeit deuten

Eine dauernde Aufgabe der Kirche

von Erzbischof em. Dr. Robert Zollitsch

„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“

Ein Bekenntnis zur Welt

Mit diesem Bekenntnis beginnt die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“, die das Zweite Vatikanische Konzil vor fast genau 50 Jahre, am 7. Dezember 1965, verabschiedete. Damit grenzt sich die Kirche, wie so oft geschehen, nicht mehr von der Welt ab, sondern dokumentiert ihre engste Verbundenheit mit der ganzen Menschheitsfamilie. Die Türen und Fenster der Kirche gehen auf. Alles, was in der Welt geschieht und wichtig ist, soll im Herzen der Kirche erwogen und befragt werden, das Gute behalten, das, was dem Menschen und der Welt schadet, zurückgewiesen werden.

Seit dieser Zeit hat sich in der Kirche und in der Welt vieles entwickelt. Wir haben rasante Veränderungen erlebt: den Bruch mit alten Traditionen ab den 60-er Jahren, technische Fortschritte, die das Leben der Menschen nachhaltig beeinflussen, die digitale Revolution, die uns herausragende neue Möglichkeiten der Kommunikation, aber auch große Gefahren beschert. Die Veränderungen sind so gravierend, dass wir heute oft die Fragen stellen: Wer ist eigentlich der Mensch? Was ist eigentlich Familie, die kleinste Einheit der menschlichen Gesellschaft? Was sind die Werte, auf denen unsere Gesellschaft aufgebaut ist? Und welche Rolle spielen bei allem Religion und Glaube an Gott?

Zeichen der Zeit heute deuten

Genau für diese Situation formuliert das Konzil zu Beginn von „Gaudium et spes“ ein Programm für die Kirche und ihr Bemühen, mitten in der Welt für die Menschen und mit allen gemeinsam für Gott zu leben:

„Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie

dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben. Es gilt also, die Welt, in der wir leben, ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihren oft dramatischen Charakter zu erfassen und zu verstehen.“

Mit dem Begriff der „Zeichen der Zeit“ greift das Konzil auf die Stelle im Lukasevangelium 12,54 ff. zurück, in der beschrieben wird, wie Jesus seinen Zuhörern zum Vorwurf macht, sie könnten nicht die Zeichen der Zeit erkennen.

Das Konzil konfrontiert uns also mit der Aussage Jesu vor zweitausend Jahren. Doch wendet es den Vorwurf Jesu positiv und formuliert daraus einen bleibenden Auftrag für die Kirche und jede Christin und jeden Christen: in die Zeitereignisse hineinzuschauen, sich in die Strömungen der Gesellschaft einzufühlen, um dann zu fragen: Was verbirgt sich hinter diesen Zeiterscheinungen? Und: Was will uns Gott darin mitteilen? Wozu ruft er uns darin auf?

Positives und Negatives unterscheiden

Zu dieser Aufgabe gehört es zweifelsfrei auch, gute und hilfreiche von schlechten und den Menschen schadenden Ereignissen und Strömungen zu unterscheiden. Es gilt, die Geister, die wir riefen, sehr genau zu beobachten und zu unterscheiden. Wir müssen lernen und uns darum mühen, den guten, positiven Geist der Zeit vom negativen Zeitgeist zu unterscheiden – und entsprechend darauf zu antworten.

Christen brauchen bei dieser aufmerksamen Beobachtung und Beurteilung der Zeichen der Zeit nicht vom Punkt Null anzufangen. Die Kirche hat einen reichen Schatz an Erfahrungen und an Grundsätzen, die bei dieser Aufgabe helfen. Zuerst sind da die Aussagen der Heiligen Schrift, die helfen, Ereignisse und Strömungen zu beurteilen. In der Tradition der Kirche bemühten sich viele, nicht zuletzt die Heiligen, um Kriterien der Beurteilung. Wir müssten diese nur überzeugt und überzeugend anwenden, für uns selbst und in der Öffentlichkeit unserer Gesellschaft.

Beispiel: Das menschliche Leben

Ein grundlegendes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, die Zeichen der Zeit zu sichten, zu beurteilen und zu deuten, ist das menschliche Leben selbst. Die moderne Forschung und Medizin haben uns fantastische Hilfen zur Verbesserungen des Lebens geschenkt. Zugleich haben sie uns in den Stand gesetzt, menschliches Leben zu manipulieren. Hier stellt sich die ernsthafte Frage: Soll der Mensch tatsächlich alles tun, was er kann, oder gibt es Grenzen, hinter denen der Mensch sich letztlich gegen sich selbst wendet?

Hier steht als Kriterium zur Beurteilung und Deutung dieses Zeichens der Zeit die biblische und gläubige Überzeugung der Christen: Menschliches Leben ist ein Geschenk des Schöpfers und darum heilig und unantastbar. Weder zum Beginn noch am Ende eines menschlichen Lebens darf der Mensch Grenzen überschreiten, die die Würde des Menschen verletzen.

Wie schwer es dann wird, die Zeichen der Zeit überzeugend zu deuten, zeigt die jüngere Diskussion, was nun die Würde des Menschen sei. Christen sagen: Gott bleibt Herr über Leben und Tod. Darum dürfen Menschen in Würde sterben, ohne unnütz an Maschinen künstlich am Leben erhalten zu werden. Doch nur Gott steht es zu, ein Leben zu beenden. Andere sprechen dagegen: Es entspricht der Würde des Menschen, selbstbestimmt den Zeitpunkt seines Todes festzulegen.

In die Diskussion einmischen

Dieses Beispiel zeigt: Als Christen benötigen wir klare Überzeugungen, müssen uns aber ehrlich auf Diskussionen einlassen, dabei eigene Positionen immer neu klären und in der Öffentlichkeit einbringen. Die Zeichen der Zeit anzuschauen und zu deuten versuchen, kann auch sehr herausfordernd sein.

Doch wir dürfen uns dieser Aufgabe nicht entziehen und uns in unsere vertrauten Kreise zurückziehen. Die Aussagen des Konzils reden uns ins Gewissen: Wir haben „allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“.

basis mit dabei

Die Zeitschrift basis, deren Entwicklung ich seit ihrer Entstehung vor 40 Jahren persönlich mitverfolgt habe, hat sich dieser Aufgabe, die Zeichen der Zeit zu deuten, gestellt. Sie will sich nun dieser Aufgabe weiter und in verstärktem Maße stellen. Basis-online soll dabei helfen, möglichst zeitnah auf Ereignisse und Strömungen in Kirche und Gesellschaft zu reagieren.

Ich wünsche dem Vorhaben eine engagierte Mitarbeit möglichst vieler. Ich erhoffe mir eine rege Diskussion zu den wichtigen Themen des Lebens und unserer Gegenwart. Ich bitte darum, zu einer gediegenen Diskussion in der kirchlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit beizutragen. Für alles Bemühen wünsche ich Gottes lebendigen Geist, der unseren Geist fähig macht, die  guten und die fragwürdigen Geister der Zeit zu unterscheiden.

(Foto oben: © Dreaming Andy · fotolia.de)

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