Ein Geschenk Gottes für alle, die sich darauf einlassen
Wie Geistpflege zu seelischer Lebendigkeit führt
von Martin Schiffl
Gleich am Beginn seiner Tätigkeit als Lehrer im Internat der Pallottiner war für Pater Josef Kentenich klar, dass mit strengen Regeln und Prügelstrafe den freiheitsliebenden Schülern nicht beizukommen ist. So gibt er seinen Schülern und sich selbst zur Aufgabe: „Wir wollen lernen, uns unter dem Schutze Mariens selbst zu erziehen zu festen, freien, priesterlichen Charakteren“. Es ist wohl Kentenichs erster Hinweis auf das, was er später Geistpflege nennt. Und die Erkenntnis, die dahintersteht: Gib den Menschen Freiheit (wie es ja Gott auch tut), UND sorge dafür, dass sie mit dieser Freiheit richtig umgehen lernen.
Später formuliert es Kentenich dann so: „Bindung nur (aber auch) soweit als nötig, Freiheit soweit als möglich, Geistpflege auf der ganzen Linie in vollendeter und gesicherter Weise“.
Der erste Teil entspricht in etwa den revolutionären Forderungen der 1968er Generation: „Keine Regeln, sondern Freiheit.“ Interessant ist, dass es heute zwar viel mehr Freiheit gibt als früher, aber die Regulierungen ständig mehr werden, sodass man heute schon von Überregulierung spricht. So wird am Ende der ganze Mensch reguliert, was nicht nur zum Verlust der Freiheit, sondern auch zum Verlust seiner Lebendigkeit führt.
Das Ziel der Geistpflege ist geistig-seelische Lebendigkeit. Das gilt für den Einzelnen und genauso für jede Gemeinschaft. Freiheit ist wunderbar, aber anstrengend, weil sie nur auf dem Boden geistig-seelischen Wachstums geschieht. Dieser Boden wird aber unfruchtbar, wenn er nicht gepflegt wird, deshalb Geistpflege.
Geistpflege ist keine reine Wissensvermittlung. Wenn ich den Katechismus studiere, ihn in- und auswendig kann und alles daraus theologisch perfekt begründen kann, wird mein Glaube trotzdem nicht wachsen. Wenn ich aber einen kleinen Abschnitt aus dem Katechismus hernehme, ihn auf mich wirken lasse und überlege, was das mit meinem Leben zu tun hat und was ich daraus lernend in meinem Leben verändern kann, dann ist das Geistpflege. Es lässt mich innerlich wachsen. Wenn ich dann zusätzlich dem nachspüre (mit Kopf und Herz), was Gott mir mit dem Gelesenen sagen möchte, dann besteht die Chance, dass mein Glaube wächst. Kentenich nennt diese Methode zur Geistpflege Betrachtung.
Wo ist der Ansatzpunkt?
In meiner Pfarrei gibt es seit mehr als 60 Jahren Jugendgruppen. Das hat seinerzeit ein junger Pfarrer ins Leben gerufen. Dieser Pfarrer lebt nicht mehr, aber einige aus der damaligen Jugendgruppe gibt es noch. Und die Jugendgruppen gibt es auch noch immer. In einem Interview hat jetzt einer der Alten beklagt, dass es die Jugendgruppen nur mehr gibt, damit die Kinder miteinander spielen können, und: „Die wissen ja gar nicht, wie die Kirche innen aussieht. Die kann man auch gleich zum Fußballverein schicken!“ Und jetzt entsteht eine Diskussion, ob man die Jugendgruppen nicht vielleicht doch auflösen sollte oder ob man die Kinder nicht dazu verpflichten sollte, auch am Sonntag in die Kirche zu gehen, wenn sie sich schon in der kirchlichen Jugendgruppe vergnügen dürfen. Schwierige Frage: Wie bekommt man heute Jugendliche dazu, dass sie nicht nur Freude an der Gemeinschaft und am Spiel haben, sondern auch am Glaubensleben? Antwort: Geistpflege. Ja, aber wo ist der Ansatzpunkt?
Wir schauen wieder zurück auf die Zeit, als Kentenich im Internat der Pallottiner unterrichtet hat. Er soll die Schüler in den Griff bekommen, die gegen die strengen Internats-Regeln revoltieren. Kentenich tut zwei Dinge: Er überlegt, was Gott von ihm in dieser Situation möchte und er überlegt, was die Schüler bewegt: Stört sie die formale Pflichterfüllung? Sind sie vielleicht nur hier, weil sie von den Eltern in dieses Internat gesteckt wurden? Der Freiheitsdrang, ein Zeichen der anbrechenden neuen Zeit – lässt sich daraus etwas Positives machen? Kentenich sucht nach einem Ansatzpunkt. Er will nicht alte Methoden anwenden (Bestrafung bis hin zu Prügel). Sein Ansatzpunkt: Was bewegt die Schüler? Und: Welche Zeitströmungen (Freiheitsdrang) wirken auf die Schüler ein?
Wir sehen da, wie Kentenich bei sich selbst Geistpflege betreibt durch die Frage nach dem Willen Gottes und durch die Überlegung, was die ihm Anvertrauten im Innersten bewegt und welche positiven Kräfte hier gehoben werden können. Und dann beginnt er mit der Geistpflege bei seinen Schülern. Erster Schritt: Er hat diese Schüler gern und freut sich über ihren Freiheitsdrang. Zweiter Schritt: Er baut eine Bindung auf zu seinen Schülern. Dritter Schritt: Er vertraut ihnen und vertraut auf die Kraft Gottes in ihnen. Vierter Schritt: Und erst da kommen die ersten Anregungen von ihm an seine Schüler: Er traut seinen Schülern etwas zu und regt sie zur Selbsterziehung an. Und in vielen Unterrichtsstunden gibt es dann Erklärungen und Anregungen, wie das gehen kann.
Der Mensch in seiner konkreten Situation
Lässt sich das auf die oben beschriebene Pfarrsituation übertragen? Die Überlegung, was Gott möchte, kann ich mir jederzeit stellen und die Schritte eins bis vier lassen sich auch überall anwenden, wo es um anvertraute Personen geht.
Der Ansatzpunkt für die Geistpflege ist der Mensch in seiner konkreten Situation und mit dem, was Gott in ihn grundgelegt hat (persönliches Ideal). Zur konkreten Situation gehört auch die Zeit, in der der Mensch lebt, mit ihren aktuellen Strömungen.
Hinter der Geistpflege steckt die gesamte Pädagogik Kentenichs. Aber nicht das Studium der Kentenich-Pädagogik, sondern deren konkrete Anwendung bei einem Individuum ist Geistpflege. In jedem Schultyp gibt es einen Lehrplan, der festlegt, welcher Lernstoff in der jeweiligen Schulstufe zu vermitteln ist. Dadurch ist reguliert, dass jeder Schüler, der einen Schultyp absolviert hat, den gleichen Ausbildungsstand hat. Der Lehrplan für die Geistpflege ist individuell. Es geht immer um die Frage: Was braucht dieser Schüler/dieses Kind/dieser mir anvertraute Mensch hier und jetzt von mir, um seinen Weg nach dem Plan Gottes zu gehen? Es ist wie bei einem Gärtner, der jeder Pflanze genau die Nährstoffe gibt, die sie braucht, um prächtig zu gedeihen.
Mein Weg bei Schönstatt hat mit Ablehnung begonnen. Die Eltern waren bei Schönstatt und ich etwas infiziert von den Ideen der 68er Bewegung. Meiner Mutter zuliebe bin ich dann vor meiner Hochzeit zu einem Ehevorbereitungskurs gegangen, den der damals in Österreich tätige Schönstatt-Pater Tilmann Beller gehalten hat. Nach dem ersten Abend sind meine jetzige Frau und ich voll Begeisterung nach Hause gegangen: „Der sagt genau das, was wir uns auch gedacht haben, das für unsere Ehe wichtig ist. Aber so gut könnten wir es nicht ausdrücken.“ Heute weiß ich, dass diese Art, wie Pater Beller bei seinen Vorträgen zu den Anwesenden gesprochen hat, einer Geistpflege in vollendeter Weise sehr nahekommt. Die Apostel haben einmal zu Jesus gesagt: Du hast Worte ewigen Lebens. Wer diese Worte drauf hat, der versteht sich auf Geistpflege.
Heute unterrichten meine Frau und ich an der Akademie für Familienpädagogik von Schönstatt Österreich. Hier passiert zwei Jahre lang intensive Geistpflege. Und zwar nicht nur für die Teilnehmer, sondern auch bei allen, die mitarbeiten. Die Geistpflege-Methode der Referenten: Immer wieder nachzuforschen: Was bewegt unsere Zuhörer? Was brauchen sie jetzt von uns? Was willst du von uns, guter Gott? Und die Geistpflege-Methode für die Absolventen: Immer wieder überlegen: Was hat uns bei dem Gehörten angesprochen? Was hat uns innerlich bewegt? Was möchten wir in unser Leben integrieren? Was willst du von uns, guter Gott?
Wir sind immer wieder aufs Neue erstaunt, welches große Wachstum in zwei Jahren stattfinden kann. Die Absolventen sind dann befähigt und motiviert, eine Pfarrsituation, wie oben beschrieben, anzugehen und ein Erfolgsprojekt daraus zu machen (konkrete Modellfälle sind vorhanden).
Geistpflege ermöglicht ein Leben in Fülle. Es vergrößert die Freude am Leben und vergrößert die Selbstwirksamkeit. Es ist ein Geschenk Gottes für alle, die sich darauf einlassen.
Der wichtigste Punkt
Rein menschlich betrachtet ist das mit der Geistpflege schwierig. Deshalb hat Kentenich ziemlich rasch eine Sicherung eingebaut. Was er schon 1912 angesprochen hat mit „unter dem Schutze Mariens“, das hat er dann 1914 mit dem Liebesbündnis mit Maria endgültig festgemacht. Die Gottesmutter als Erzieherin unterstützt diejenigen, die sich mit ihr im Liebebündnis verbinden, bei der „Geistpflege auf der ganzen Linie in vollendeter und gesicherter Weise“.
Ich weiß, dass viele Aspekte fehlen, die es zum Thema Geistpflege noch gibt. Ich lade Sie ein, die einfache Frage zu stellen: Was hat mich angesprochen? Wenn Sie das tun, dann ist dieser Artikel nicht nur über Geistpflege, sondern ist Geistpflege.
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