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Ein Wesen, das sich selbst beeinflussen kann

Ein Wesen, das sich selbst beeinflussen kann

Menschenwürde aus philosophischer Sicht

von Joachim Söder

“Die Würde des Menschen ist unantastbar” – wie oft haben wir diesen Satz schon gehört, der ein unfehlbares rhetorisches Mittel zur Erhöhung der Feierlichkeit ist. Und weil er geeignet ist, eine hochgemute Stimmung zu erzeugen, tut das kritische Nachdenken darüber, was diese Aussage eigentlich bedeutet, der Ergriffenheit eher Abbruch. Als der Satz 1949 an die Spitze des Grundgesetzes gestellt wurde, schien der Begriff der Menschenwürde angesichts der Gräuel, die Menschen Menschen angetan hatten, sich von selbst zu verstehen. Aber ist das auch heute noch so?

Für Gläubige resultiert die Menschenwürde aus einem besonderen Verhältnis des Menschen zu Gott. In den abrahamitischen Religionen ist die Würde dem Menschen vom Schöpfer verliehen. Das Alte Testament hebt hervor, dass Gott den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis schuf und der Mensch damit Abbild Gottes ist (Gen 1,26-27). Das Neue Testament spricht davon, dass Gott selbst “Fleisch angenommen hat” und Mensch geworden ist (Joh 1,1-14). Im Koran ist der Mensch der von Gott eingesetzte Statthalter auf Erden (Sure 2:30) und das Lieblingsgeschöpf Gottes (Sure 17:70).

Aber lässt sich Menschenwürde nur im Glauben an den einen Schöpfer- bzw. Erlösergott begründen? Dann hätte dieser Begriff für Nicht- oder Andersgläubige keine Überzeugungskraft – und somit ein echtes Legitimationsdefizit. Denn wer die weltanschaulichen, kulturellen und religiösen Einstellungen des Monotheismus nicht teilt, wird kaum Ja sagen zu den daraus entspringenden Verpflichtungen auf die Würde des Menschen.

Wir sehen aber, dass Menschen weltweit – auch dort, wo die abrahamitischen Religionen nicht vorherrschend sind – sich auf ihre Würde berufen, sei es bei den Protesten in Hongkong und Myanmar, sei es bei der durch australische Aborigines veranlassten Tourismus-Sperre heiliger Orte oder bei der Forderung indigener Völker nach Rückgabe geraubten Kulturguts. Offensichtlich gibt es ein intuitives Verständnis von Würde, das transkulturell und transreligiös ist. Es zu entfalten und auf den Begriff zu bringen, fällt in den Bereich der Philosophie.

 

Joachim Söder

Professor Dr., Hochschullehrer für Philosophie an der Katholischen Hochschule NRW, Vorstandsmitglied im Josef-Kentenich-Institut.

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Foto: © Malteser Würzburg