Eine hilflose Großmacht in einer globalisierten Welt?
Putins Rede zum Kriegsbeginn und sein Blick auf die Welt
von Benedikt Matt
Die Rede, mit der Wladimir Putin am 24. Februar offiziell den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, war eine Rede für die Geschichtsbücher. Sie markiert das Ende der europäischen Friedensordnung, die dem Kontinent seit dem Ende des Kalten Krieges eine Blütezeit beschert hatte. Damit stellt sie aber keinen Wendepunkt dar. Putins Rede und alle damit verbundenen Handlungen Russlands sind vielmehr eine konsequente Fortführung von Putins Rhetorik und politischem Handeln der vergangenen Jahrzehnte.
Diese ist zwar ein Schlüsselpunkt in der Geschichte, doch sie hat selbst nichts verursacht – sie war keine große Rede. Als Schlüsselpunkt kann Sie uns aber dazu dienen, ein tieferes Verständnis für die Entwicklungen zu erlangen, die sie begleitet. Putin versucht in dieser halben Stunde ein beträchtliches rhetorisches Kunststück: Die Rechtfertigung eines ungerechtfertigten Krieges. Hierfür sind insbesondere drei Techniken auffällig: eine ausführliche Erzählung, fragwürdige historische Vergleiche und entmenschlichendes Framing.
Putins Narrativ: Die USA und ihre Marionetten
Zunächst zur Grobstruktur der Rede: Nach einer sehr kurzen Einführung steigt Putin in einen langen Teil ein, der in der Rhetorik narratio genannt wird – der erzählende Teil, der die eigentliche Argumentation vorbereiten und die Sympathien des Publikums gewinnen soll. Putins narratio nimmt die Hälfte seiner Redezeit in Anspruch. Anders als man erwarten könnte, spricht er dabei aber nicht über die Ukraine – sie spielt in seiner großen Erzählung keine Rolle.
Stattdessen befasst sich Putin ausschließlich mit den USA. Er schildert seinen Blick auf die Geschichte seit dem Zerfall der Sowjetunion und stilisiert sich dabei zum ohnmächtigen Opfers sinistrer Mächte. Die USA seien auf die Zerstörung Russlands aus, die europäischen Staaten unterstützten sie dabei als willfährige Marionetten. Putin zeichnet das Bild einer in die Ecke gedrängten Nation, die sich eigentlich nur mit sich selbst beschäftigen will und bis zuletzt friedlich und diplomatisch bleiben wollte. Die Adjektive, mit denen er den Westen dabei belegt, sind durchweg negativ – arrogant, egoistisch, ignorant. Die emotionale Basis ist gelegt: der böse Westen und die friedlichen Russen.
Lange und ausführlich geht er anschließend auf diverse Kriege der USA, insbesondere den Irakkrieg ein. Was auf den ersten Blick wie klassischer Whataboutismus (Ablenkung von eigenen Fehlern mit Verweis auf Fehler des anderen) wirkt, dient noch vielem mehr: Er baut die Bösewicht-Rolle des Westens weiter aus, der Schwächere überfällt und dabei keine Rücksicht auf das Recht nimmt. Der Westen ist nun nicht mehr nur böse, sondern gefährlich.
Daran schließt er das bekannte Lamento über die NATO-Osterweiterung an – dabei natürlich elegant außer Acht lassend, dass diese „Expansion“ eigentlich eine Flucht der ehemaligen Sowjetrepubliken und Staaten des Warschauer Pakts vor Russlands imperialistischen Bestrebungen war. In der Binnenlogik seiner Rede ist nun der Westen auch als akute Gefahr für Russland etabliert, die sich hinterlistig bis an die eigene Haustür geschlichen hat und darauf wartet, loszuschlagen.
All das hat mit politischen Fakten wenig zu tun – in einer stringenten Erzählung soll es aber Sympathien erwecken für die Nation, die in diesem Drama immer das Opfer zu sein scheint.
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