Gefangene besuchen – Grenzen verschieben
von Hans-Martin Samietz
Die Tränen hat er sich tätowieren lassen. Dunkelblau fristen sie ihr Dasein über dem rechten Wangenknochen. „Was bedeuten deine Tränen?“ Nachdem mein Begleiter ihm meine Frage präsentiert hat, finden seine Augen von unergründlicher Ferne her die meinen. Seine Finger rutschen von Tatooteil zu Tatooteil: „libertad – amor – paz“ (Freiheit, Liebe, Friede), so seine Erklärung für diesen Moment. Juan versuchte, von diesem Ort zu fliehen. Dafür kletterte er auf das Dach seines Zellenblockes. Er rutschte ab und stürzte in die Tiefe. Mit dem Rücken kam er auf dem Asphalt des Gefängnishofes zum Liegen – drei Wochen Rollstuhl. Warum er dort nicht liegenblieb, die Wirbelsäule gebrochen, gelähmt, unfähig, auch nur einen Finger zu bewegen, wird für ihn vielleicht einmal das Rätsel seines Lebens werden – hoffentlich! Vielleicht gelten seine Tränen aber auch einem seiner Opfer, welches er im Kampf um ein Häuflein Crack niedergestochen hat. Vielleicht gelten sie aber auch seiner Mutter, die sich seit seinen frühen Kindertagen nicht mehr auffinden lässt. Wer weiß das schon! Für heute soll gelten: „libertad – amor – paz“.
Ich befinde mich hier im Jugendgefängnis von Itauquá (Paraguay). Heute ist das Team der Gefängnispastoral auf dem Gelände. Jeden Samstag verteilen sie sich auf dem Gelände, holen die Jungen zusammen, machen eine kleine Fiesta im Vorraum des Zellenblocks. Es gibt Kuchen. Die Schlange beginnt bei Pater Pedro. Er hält das Mikro in die Luft und versucht, sich gegen die anstürmenden Jungen zu stemmen. Immer noch versuchen einige, ihren Körper zwischen Pater Pedro und dem ersten Jungen in der Reihe zu zwängen. Pater Pedro muss einen Ausfallschritt nach hinten machen. Er lacht. Jetzt kann es losgehen. …
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