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Geh nicht so gewalttätig mit dir und anderen um!

Geh nicht so gewalttätig mit dir und anderen um!
„Heiligkeit“ – 
neu betrachtet mit Papst Franziskus

von Josef Treutlein

Perfekt? Originell!

Von dem alten Rabbi Susja stammt der Ausspruch: „Wenn ich einmal im Jenseits ankomme, wird man mich nicht fragen: Warum bist du nicht Mose gewesen? Man wird fragen: Warum bist du nicht Susja gewesen?“ Ich liebe dieses Wort aus der jüdischen Weisheit. Warum wollte ich eine Kopie sein – und nicht das Original? Warum ein ganz anderer Mensch? Warum hatte ich nicht den Mut, ich selber zu sein? Nur – aber ganz! – ich selber? Warum habe ich die falsche Hausaufgabe machen wollen? In meiner Traumwelt schwebt mir ein „Ideal“ vor, wie toll, wie perfekt ich sein möchte. Langsam lerne ich dankbar zu sein für das, was mir geschenkt ist. Zugegeben: Es ist nicht sonderlich viel! Aber aus diesem Wenigen möchte ich das Beste herausholen.

Und schon bin ich bei der Bergpredigt Jesu „Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.“ Die Seligpreisungen (Mt 5, 1-12) sind das Kernstück des Apostolischen Schreibens „Gaudete et exsultate“ über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute. Mich hat angesprochen, wie Papst Franziskus die Seligpreisungen auslegt. Eine kleine Kostprobe greife ich heraus.

 „Selig die Sanftmütigen … !“

Die neue Bibelübersetzung bevorzugt wieder dieses alte Wort „sanftmütig“, das zwischenzeitlich umschrieben war in „die keine Gewalt anwenden“. „Das ist“, schreibt der Papst, „eine starke Aussage in einer Welt, die seit Anbeginn ein Ort der Feindschaft ist, wo überall gestritten wird, wo auf allen Seiten Hass herrscht, wo wir ständig die anderen klassifizieren, nach ihren Ideen und Gewohnheiten. … Letztendlich ist es ein Reich des Stolzes und der Eitelkeit, wo ein jeder meint, er habe das Recht, sich über die anderen zu erheben. Obwohl es unmöglich erscheint, schlägt Jesus einen anderen Stil vor: Sanftmut. Das ist es, was er mit seinen eigenen Jüngern praktiziert, und was wir bei seinem Einzug in Jerusalem beobachten können: ‚Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist sanftmütig und er reitet auf einer Eselin.‘ (Mt 21,5) Er sagt: ‚Lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele.‘ (Mt 11,29) 

Wenn wir hochmütig und stolz vor den anderen leben, sind wir am Ende müde und erschöpft. Wenn wir aber ihre Grenzen und Fehler mit Milde und Sanftmut sehen, ohne uns für besser zu halten, dann können wir ihnen zur Hand gehen und vermeiden, unsere Energie in unnützen Klagen zu verschwenden. Für die hl. Therese v. Lisieux besteht die vollkommene Liebe darin, die Fehler der anderen zu ertragen und sich nicht über ihre Schwächen zu wundern. Paulus erwähnt die Sanftmut als eine Frucht des Hl. Geistes (Gal 5,23). Sein Vorschlag: Wenn uns die Verfehlungen des Bruders oder der Schwester Sorgen machen, sollen wir uns nähern, um ihn oder sie zurechtzuweisen, aber im Geist der Sanftmut (Gal 6,1). Dabei mahnt er: ‚Gib acht, dass du nicht selbst in Versuchung gerätst‘ (ebd.). Auch wenn man seinen Glauben und seine Überzeugung verteidigt, soll man es ‚bescheiden‘ tun (1 Petr 3,16), und selbst die Gegner müssen ‚mit Güte‘ behandelt werden (2 Tim 2,25). In der Kirche haben wir uns oft verfehlt, weil wir diesem Auftrag des göttlichen Wortes nicht entsprochen haben.“

Mut besonderer Art

Sanftmut ist nicht attraktiv. Wir wollen nicht wie ein geduldiges Schaf sein, das alles mit sich machen lässt. Es muckt nie auf. Es fügt sich geduldig ein. Es ordnet sich willig unter. Solche Art von Gutmütigkeit hat etwas von Trottelhaftigkeit. Nachgiebigkeit wirkt wie Schwachheit. Bescheidenheit schmeckt womöglich nach Kriecherei. Aber: Schon das Wort „Sanftmut“ belehrt uns eines Besseren. Der Sanftmütige ist „sanft“ und „mutig“ zugleich. Er hat den Mut, auch unter Schwierigkeiten gütig und nachsichtig zu sein.

„Sanftmut“ galt schon immer als Eigenschaft der Edelgesinnten: Der Weise bleibt auch Schmähungen gegenüber sanftmütig. Der Gerechte bestraft milde. Der gute König regiert mit Milde. Damit wird deutlich: Der Sanftmütige hat Mut. Er bleibt sich treu. Er ist gütig trotz Ablehnung, auch trotz Erfolglosigkeit. Er lässt sich in seinem grundsätzlichen Wohlwollen nicht beirren. Er setzt nicht auf Lautstärke. Er will nicht zwingen. Er will überzeugen. Er arbeitet nicht mit den Ellenbogen. Er will nicht mit aller Macht sein Ziel erreichen. Er stellt den Erfolg nicht über den Menschen. Er wendet keine Gewalt an, auch nicht auf subtile Art. Er weiß: Die Liebe tut auf Dauer ihre Wirkung.

Der Sanftmütige sucht nicht den Streit, sondern den Ausgleich. Und wenn ein Anderer den Streit sucht, versteht es der Sanftmütige, so zu kämpfen, dass der Aggression des Gegners die Luft ausgeht. Der Sanftmütige wartet nicht auf die Stunde der Rache. Selbst wenn ihm Böses widerfahren ist, antwortet er nicht mit Bosheiten. Durch seine Güte durchbricht er den Teufelskreis des Bösen. „Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!“ (Röm 12,21)

„… denn sie werden das Land erben“

Wir brauchen und suchen Land, eine Heimat, einen Rückzugsort. Ein Flüchtling sucht Sicherheit und Geborgenheit. „Land“ – das erinnert an die alten Verheißungen: Gott verheißt Abraham Land. Dem Mose mit dem ganzen Volk wird Land versprochen. Land – das ist Gabe Gottes, Zeichen seiner Liebe und Treue. Land – das meint letztlich das Reich Gottes – über jede Geographie hinaus. „Wir erwarten Gottes Verheißung gemäß einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt“ (2 Petr 3,13).

Hören wir noch einmal Papst Franziskus: „Die Sanftmut ist ein anderer Ausdruck für die innere Armut dessen, der sein Vertrauen allein auf Gott setzt. Deswegen verwendet die Bibel für gewöhnlich das gleiche Wort „anawím“ in Bezug auf die Armen und Sanftmütigen. Lassen wir es zu, dass die Anderen denken, ich sei ein Dummkopf. Es ist besser, immer sanftmütig zu sein; unsere größten Wünsche werden sich dann erfüllen: Die Sanftmütigen werden das Land erben, das heißt: In ihrem Leben werden sich die Verheißungen Gottes erfüllen. Denn gegen alle Umstände hoffen die Sanftmütigen auf den Herrn. „Die aber auf den Herrn hoffen, werden das Land besitzen … und ihre Lust haben in der Fülle des Friedens (Ps 37, 9 u. 11) … Mit demütiger Sanftmut reagieren, das ist Heiligkeit.“ (GeE 71-74)

Vom sanften Umgang mit sich selbst

Manche gehen gewalttätig mit sich selber um. Sie treiben Raubbau an ihrer Gesundheit. Die Motive mögen edel sein: Alles geben. Hundert Prozent. Das sieht ganz nach Heiligkeit aus. Aber: Das zehrt auf die Dauer an der Substanz und bleibt nicht ohne destruktive Wirkung.

Der Chefredakteur des Magazins „GEO Wissen“, Claus Peter Simon, schreibt unter dem Titel „Erschöpfungsgesellschaft“: „Wir müssen uns ständig neuen Erwartungen anpassen, kämpfen permanent mit Zeitnot, leiden unter Informationsüberflutung. Der Mensch in der beschleunigten Gesellschaft von heute ist einer dauerhaften psychischen Belastung ausgesetzt. Viele Frauen und Männer kapitulieren davor – und entwickeln schwere Stress-Symptome, Ängste, Süchte oder gar eine Depression.“

Wenn wir nicht aufpassen, haben wir in der digitalen Welt keinerlei Rückzugsort. Wir sollen ständig erreichbar sein. Jemand hat gesagt: „Das Smartphone ist kein Gerät mehr, es ist ein Körperteil.“ Wenn es so ist, und wenn dieser kleine Diktator uns derart verfolgt und hetzt, dann „Hau ihn ab!“ (Vgl. Mt 5,30) Wir dürfen ihm nicht so viel Macht geben! Er will bloß, dass wir funktionieren. Wollen wir das wirklich? Wollen wir nicht lieber daran arbeiten, Originale zu werden?

Ich baue in meinen Alltag systematisch stressfreie Momente ein. Ich nehme mir jeden Tag eine halbe Stunde Zeit für das Gebet. „Und wenn du sehr viel zu tun hast“ – so rät die sanftmütige Mutter Teresa – , „dann nimm dir eine ganze Stunde!“ Kennen wir, praktizieren wir so etwas wie Phasen der Unerreichbarkeit? Internetfreie, Smartphone freie, berieselungsfreie Zeiten? Wenn ja, dann werden wir „das Land erben“. Es fällt uns zu. Wir müssen nicht den verbissenen und dann doch ewig überforderten Eroberer spielen. Gott wartet schon darauf, uns zu beschenken, im innersten Raum unseres Herzens, in unserem Herzensheiligtum, unserem Rückzugsort.

Wo steht bei mir eine Entschleunigung an? „Wer nicht will, findet Gründe. Wer will, findet Wege.“

 

Josef Treutlein

langjähriger Gemeindepfarrer, tätig in der Geistlichen Begleitung, Wallfahrtsseelsorger der Diözese Würzburg, Mitglied im Schönstatt-Institut Diözesanpriester.

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Foto: © Englingfeuer · Quelle: Privat