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Gesundes Leiden

Gesundes Leiden

von Michael Linden

Das alltägliche Leiden

Fragt man, wann jemand krank ist und speziell unter einer „psychischen Störung“ leidet, dann ist eine häufige Antwort: „Wenn es dem Betreffenden schlecht geht.“ Subjektives Leiden wird entsprechend auch als Rechtfertigung angesehen, therapeutische Hilfe zu suchen. Dem steht jedoch entgegen, dass kaum ein Tag vergehen dürfte, an dem man nicht auch negative Gefühle erlebt wie Lustlosigkeit, Ärger, Trauer, Hoffnungslosigkeit, Angst, Interesselosigkeit, Erschöpfung, Bedrücktheit, Niedergeschlagenheit, Frustration, Verzweiflung, Missmut, Verbitterung und so weiter. Bei Ehestreitigkeiten, schreienden Kindern, Tod eines Angehörigen, einer Krebserkrankung, Versagen in einer Prüfung oder Konflikten am Arbeitsplatz ist es „normal“, schlechter Stimmung zu sein und das auch über längere Zeit. Auch Christus hat sich bekanntermaßen im Garten Gethsemane oder auf Golgotha nicht wohl gefühlt. Es kann also nicht sein, dass subjektives Leiden oder schlechtes Befinden mit psychischer Störung oder Behandlungsbedarf gleichzusetzen ist.

Auch die Weltgesundheitsorganisation macht einen
Unterschied zwischen gesundem und krankem Leid

Das wird auch in der internationalen Klassifikation der Krankheiten (Weltgesundheitsorganisation – WHO) so gesehen. Es gibt ein eigenes Kapitel (Z-Codes), in dem alltägliche Lebensbelastungen genannt werden, um es Ärzten zu ermöglichen, Menschen, die leidend zu ihnen kommen, dennoch als gesund zu bezeichnen. Die dort gegebene Auflistung gibt einen interessanten Einblick in das menschliche Leben. 

Jeder dieser Punkte ist nochmals detailliert untergliedert, wie zum Beispiel die Probleme mit Bezug auf die Berufstätigkeit mit den Unterkategorien Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzwechsel, drohender Arbeitsplatzverlust, belastende Einteilung der Arbeitszeit, Unstimmigkeit mit Vorgesetzten oder Kollegen, nicht zusagende Arbeit. 

Es gibt also selbst nach der WHO-Vorgabe viele Lebenssituationen, in denen man sich schlecht fühlen kann, ohne krank zu sein. Wenn einem also die Arbeit nicht gefällt, mag das durchaus schlechte Stimmung machen, das ist aber keine Krankheit. Dasselbe gilt für Wadenschmerzen nach einer Bergwanderung, die keine Indikation für eine Behandlung mit einem Schmerzmittel sind, obwohl das in einer Fernsehwerbung so suggeriert wird.

Michael Linden

Univ.-Prof. Dr. med., Dipl.-Psych., Berlin, vertritt in basis den Bereich Medizin und Psychotherapie.

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Beitragsfoto: © pict rider · stock.adobe.com

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