Glauben im Resonanzbogen zwischen Gott und Welt
von Helmut Müller
… oder schwingt nichts zurück? Ist Glaube vielleicht eine kindliche Illusion, wie Freud meint?
Wie dem auch sei: Kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres wurde ich gefragt, ob ich etwas zur Thematik „Resonanzkrise des Glaubens“ schreiben könne. Die Anfrage traf an einem Donnerstagmorgen um 10.28 Uhr in meiner Mailbox ein. 10.41 Uhr sagte ich zu. Der Anfrager war wegen dieser schnellen Zusage erstaunt, ich eigentlich auch. Noch nie vorher hatte ich so schnell einen Artikel zugesagt, allein schon deswegen, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich hätte nichts zu tun. Warum also die schnelle Zusage?
Zwei Ereignisse am Montag und am Mittwochabend davor waren der Grund. Was war geschehen? Mein letztes Weihnachten als Lehrender an der Uni stand unmittelbar bevor. Vor Weihnachten allgemein, und vor der Rente erst recht, neigt man zu schwermütigen Rückblicken: Ich schwärmte in meiner Montagsvorlesung mal wieder von der Freiheit der Lehre vor der Einführung der modularisierten Studiengänge, der Zeit also, bevor Dozenten und Studenten wie ein Hamster im Rad von Modulen laufen mussten. Ich erzählte, dass ich noch die große Freiheit gehabt hätte, meinen Lehrstoff zu wählen, ohne lange überlegen zu müssen, ob das in mein Modul passt. Statt Studenten als Moraltheologe „Mores beibringen“ zu müssen, konnte ich vor Jahren Schriftsteller in ihrer Nähe und Ferne zum Glauben vorstellen.
An Schriftstellern ablesen, wie es um den Glauben steht
Ich geriet immer mehr ins Schwärmen: Schriftsteller seien nämlich eine ganz besondere Spezies Menschen. Sie lebten mit dem Füllhalter in der Hand. Mit wachsamen Augen schauten sie nach drinnen und draußen. Seelen-, Welt- und Zeitnöte gerieten unter das Seziermesser ihrer Aufmerksamkeit. Sie hätten die Hand am Puls der Zeit; sie könnten das Gewissen ihrer Gesellschaft sein oder ein Herz für deren Nöte haben. Für Seelenumbrüche ganzer Generationen stünden sie bisweilen zeitlos als geistliche Begleiter bereit.
Diese an vorderster Front der Zeit lebende Existenz des Schriftstellers hätte manchmal auch einen Preis. Ungeduldige Leser ihrer Werke wollten mit Gewalt verwirklichen, was die Schreiber dieser Werke visionär verkündeten. Verstanden würden Schriftsteller allerdings nur, wenn sie den Nerv der Zeit träfen. Sind sie der Zeit voraus oder hinterher, hielte sich die Resonanz ihrer Werke in Grenzen.
So etwa erzählte ich von Zeiten, in denen auch Lehrende noch ohne im Korsett von Modulen lehren konnten. Vom eigenen Schwung mitgenommen, holte ich die alten Unterlagen heraus, um Sehnsüchte, Resignation, Hoffnung und Begeisterung von sensiblen Menschen im Resonanzraum zwischen Gott und Welt noch einmal auszuloten. In meinen Unterlagen fand ich dann folgende Notizen:
Gott wie altes Gerümpel?
Ein Schriftsteller wäre aus der Welt, hätte er nicht irgendeinen Bezug zum Thema „Was ist Glaube?“ So nannte ich damals das Seminar. Selbst ein Nichtbezug muss als ein Bezug gesehen werden, weil auch dieser Nichtbezug eine Resonanz in der Gesellschaft hat.
Gerade diesen Nichtbezug moderner Literatur und darüber hinaus von bildender Kunst und Musik mahnte der ehemals in Genf und Cambridge lehrende und aus Deutschland stammende jüdische Gelehrte George Steiner an. In seinem Aufsehen erregenden Werk „Von realer Gegenwart“ redet er Literaten und Künstlern ins Gewissen: Gott käme in der Gegenwart nur noch in der Weise vor wie die Worte Sonnenauf- und -untergang in einer kopernikanischen Welt, in der jeder wisse, dass es bloße Fiktionen der Eigenbewegung der Erde sind. „Wie altes Gerümpel oder Gespenster auf dem Dachboden“ herumspuken, so sei Gott nur noch ein Wort, „gefangen im Gerüst und in den Schlupfwinkeln unserer gewohnten Alltagssprache“, eine „leere Metapher in unserer Grammatik“.
Gott wie eine Seifenblase zerplatzt?
Die These Nietzsches, dass Gott tot sei, hat diese Nischenexistenz des Gottesglaubens eingeläutet und Gott „auf den Dachboden“ befördert. Glauben schwingt nicht mehr zwischen Gott und Welt, sondern scheint wie eine Seifenblase im All zu zerplatzen. Nichts schwingt zurück. Werk und Biographie von Josef Roth, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, Franz Kafka und Emile Cioran z. B. tun sich schwer mit diesem trügerischen Schwingen, das nicht nur zur Biographie dieser Künstler gehört, sondern zur Gesellschaft des 20. und auch 21. Jahrhunderts überhaupt. Alle fünf Schriftsteller kommen aus Verhältnissen einer noch intakten religiösen Orthodoxie, Josef Roth und Franz Kafka aus einer jüdischen, Rainer Maria Rilke aus einer katholischen, Hermann Hesse aus dem württembergischen Pietismus und Emile Cioran aus einer rumänisch-orthodoxen Pfarrersfamilie.
Schriftsteller gehören zu der sensiblen Sorte Menschen, die wie Seismometer Erdbeben messen und sich, wie Martin Walser einmal sagte, „zu einer Gebetssprache nicht mehr verkrümmen können“. Mit dem Ende der Kindheit (besonders bei Hesse und Cioran) oder dem Erwachen der Intellektualität wird der Resonanzbogen des Glaubens gesprengt, um nie wieder aufgerichtet werden zu können. Die in sich geborgene erste Phase ihres Lebens wird in der Pubertät bzw. im Erwachsenwerden zerbrochen. Aber anstatt wie in einer normalen menschlichen Entwicklung, jenseits von Pubertät und Heranwachsendenstatus unter der schützenden „Ozonschicht“ der jeweiligen religiösen Kultur wieder resonante Phasen im Glauben zu durchlaufen, versuchen sich die genannten Schriftsteller ein Leben lang gegen die „kosmische Strahlung“ eines nihilistischen Zeitgeistes zu schützen oder sich ihr resigniert auszusetzen.
Versuche, mit der Gottesleere umzugehen
Josef Roth geht sogar so weit, an ein Eingreifen Gottes in die Zeit zu glauben, wagt es sogar, Wunder literarisch hoffähig zu machen. Rainer Maria Rilke versucht, Religion durch Kunst zu ersetzen, die Transzendenz aufzuheben und in der Immanenz literarisch Möglichkeiten des Trostes aufzufinden. Hermann Hesse sieht die Lösung in der Vereinigung der Seele mit der Welt. Franz Kafka thematisiert zwar ständig die Abwesenheit Gottes, glaubt aber, dass er sich letztlich doch meldet. Emile Cioran schließlich, die tragischste Figur der genannten Schriftsteller, hat eine überaus glückliche Kindheit im Resonanzbogen zwischen Gott und Welt nicht verwunden und versucht, eine lebenslange Verzweiflung schriftstellerisch zu bestehen.
Andererseits: der Trost des resonanten Gottesglaubens
Ida Friederike Görres und Werner Bergengruen dagegen vermögen noch den ganzen Trost, den ein resonanter Gottesglaube zu schenken vermag, eindrucksmächtig darzustellen. Gegenüber den genannten Schriftstellerkollegen sind sie die großen Ruhepole in einer aufgewühlten See, wenn man Werke und Biographien vergleicht: Aldous Huxley nahm Drogen, Josef Roth war Trinker, Hermann Hesse und Reinhold Schneider hatten einen Selbstmordversuch hinter sich, Albert Camus sein ganzes Leben lang vor sich, und Jean Paul Sartre und Heinrich Böll mischten mit den Ungereimtheiten ihrer Weltanschauungen eine ganze Generation auf, sie waren Idole der sogenannten 68er.
Ich begann damals, zu Beginn meiner Lehrtätigkeit auf der Uni, mit den um den Gottesglauben ringenden Schriftstellern und endete nun mit den ihn bewahrenden Schriftstellern, nämlich Ida Friederike Görres und Werner Bergengruen. Diesen resonanten Spannungsbogen hatte ich montags in der Vorlesung aufgespannt.
Am Mittwochabend hatten wir Weihnachtsfeier. Bei Plätzchen und Glühwein kam ich mit einer Studentin ins Gespräch, die in der Vorlesung am Montag anwesend war. Beim Verabschieden sagte sie: „Herr Müller, haben Sie noch Unterlagen von dem, was Sie am Montag gesagt haben. Ich bin im zweiten Fach Germanistikstudentin. Können Sie mir die Unterlagen überlassen?“ Was für ein Weihnachtsgeschenk, wenn nach jahrzehntelanger Lehre der Resonanzbogen zwischen Gott und Welt in eine andere Lehre, in die dieser Studentin, schwingen würde und die Schwingung ins Nichts wenigstens in einem Fall gestoppt würde!
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