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Global denken, lokal handeln

Global denken, lokal handeln

Oft nur als Drohung dargestellt: Globalisierung ist auch eine Chance

von Markus Hauck

An was denken Sie zuerst, wenn das Stichwort Globalisierung fällt? An Flüchtlingsströme, an Großkonzerne, die auch in den entlegendsten Ecken der Welt ihre Produkte von Smartphone über Zuckerbrause bis hin zu Trinkwasser oder Sportbekleidung an die potenziellen Kunden bringen möchten?

Kein Zweifel: All diese Auswirkungen von Globalisierung gibt es. Aber da sind eben auch andere Aspekte, die man sich durchaus einmal bewusst machen sollte: Weltweit gibt es als Folge der Globalisierung eine neue Mittelschicht. In Indien, mit weit über einer Milliarde Bewohnern eine nicht zu verachtende Größe, ist der Anteil der Bitterarmen, die mit weniger als zwei Dollar pro Tag überleben müssen, zwischen Anfang der 1990er Jahre und dem Jahr 2015 von 37 auf 19 Prozent gesunken. Noch stärker war diese Entwicklung beim anderen großen Land Asiens: In China reduzierte sich der Armenanteil im gleichen Zeitraum von 41 auf fünf Prozent. Heute gehören nach Schätzungen etwa 900 Millionen Chinesen zur Mittelschicht, die meisten Menschen im Land der Mitte sind heute krankenversichert. Eine Quote, von der die einstige Weltmacht USA weit entfernt ist. 

Die Weltordnung ist vielschichtiger geworden

Natürlich hat jede Entwicklung auch Auswirkungen: Die über Jahrzehnte gültige Weltordnung mit der bei genauerer Betrachtung wirklich absurden Unterteilung des einen Erdballs in eine Erste, Zweite oder Dritte Welt ist – Gottseidank – längst überholt. Vor der Finanzkrise und Coronapandemie wurden aufsteigende Schwellenländer gehypt als BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China), dann war die Rede von den „Next Eleven“ (Ägypten, Bangladesch, Indonesien, Iran, Mexiko, Nigeria, Pakistan, Philippinen, Südkorea, Türkei und Vietnam). Sie alle haben zwischenzeitlich ganz verschiedene Entwicklungen durchlaufen, was Wirtschaft und Gesellschaft betrifft. Unstrittig ist: Die frühere Weltordnung ist deutlich vielschichtiger und undurchsichtiger geworden. Jüngstes Beispiel ist die nicht ganz klare Positionierung der wirtschaftlich schwächelnden Türkei. Obwohl Nato-Mitglied und EU-Beitrittsaspirant, hat das Land keine Berührungsängste, schwere Waffen bei Putins Russland zu kaufen. 

Auch dieses Beispiel verdeutlicht: Die Zeiten, da die USA die unstrittige Führungsmacht auf der Erde waren, sind vorbei. Als der zweite Weltkrieg vorüber war, waren die USA für lange Zeit politisch und wirtschaftlich die Macht, die weltweit den Ton angab. Einziger Konkurrent weit und breit war die Sowjetunion – zumindest solange, bis diese am Ende des Kalten Kriegs in ihre Einzelteile zerfiel. Aber auch die USA musste so einige schwere Schläge einstecken: Die Anschläge vom 11. September 2001 zeigten dem gewaltigen Militärapparat schmerzhaft seine Verwundbarkeit ausgerechnet auf eigenem Territorium auf. Der Einmarsch im Irak und in Afganistan waren mit Verlusten verbunden und machten beide Länder für lange Zeit zu Krisenherden, im Falle Afghanistans bis heute. Weltweit war Amerika 1980 mit 22 Prozent Anteil an der Wirtschaft die Macht schlechthin, 2020 waren es gerade noch 15 Prozent. Europa ging es nicht viel besser: 1980 mit 51 Prozent noch der Big Player der Wirtschaft, waren es nach Angaben des Internationalen Währungsfonds 40 Jahre später weniger als 30 Prozent. 

Nicht die USA allein, alle Länder, die gemeinhin als „der Westen“ bezeichnet werden, haben ihre einstige Vormachtstellung eingebüßt. Wie sehr gerade in unseren Breitengraden die Wirtschaft vom einst als rückständig belächelten China abhängig ist, haben die im Zuge der Coronapandemie eingbrochenen Lieferketten uns allen deutlich vor Augen geführt.

Das Internet schafft weltweite Öffentlichkeit

Eine Erfindung hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Welt heute viel engmaschiger vernetzt ist denn je zuvor. Sie trägt dieses Vernetzen auch in ihrem Namen: das Internet. Weil das World Wide Web es für die Menschen ganz einfach macht, Bilder, Texte und Videos miteinander zu teilen, gibt es eine neue, weltweite Öffentlichkeit. Via Facebook, TikTok, Instagram, WhatsApp oder wie auch immer die Sozialen Medien heißen, werden auf allen fünf Kontinenten die gleichen Inhalte konsumiert, vom Katzenvideo über Bilder von Zerstörungen in der Ukraine bis zu mehr oder weniger lustigen Pannen tapsiger Kleinkinder. Selbst wenn die Konsumenten oft aus ganz verschiedenen Kutluren stammen,verändert dieser Medienkonsum die persönliche Wahrnehmung der Menschen. Bewegungen wie Fridays for Future, Black Lives Matter oder #metoo hätten ohne die Wirkmacht der Bilder nicht jenseits der Länder, wo sie begannen, eine derartig breite und nachhaltige Verbreitung gefunden.

Eng verbunden ist dieses neue globale Bewusstsein mit dem Aufstieg der bereits erwähnten neuen globalen Mittelschicht. Gerade autoriätre Regime fürchten nichts mehr, als wenn sich Menschen übers Internet zu politischen Zwecken zusammenschließen. Die Proteste im sogenannten „Arabischen Frühling“ hätte es ohne das Internet sicher nicht in diesem Ausmaß gegeben. Die Occupy-Wallstreet-Protestbewegung wurde, ausgehend von den USA, schnell weltweit zu einem nicht zu übersehenden Phänomen. Sie widersetzte sich in Echtzeit der Krise der hochvernetzten Finanzwirtschaft, und das logischerweise auf globaler Ebene, denn auch die Banken sind weltweit aktiv. 

Globalisierung: Ein neues Bewusstsein für die großen Zusammenhänge

Wenn die Welt also in vielen Bereichen wirklich enger zusammenrückt, heißt das nicht, dass lokale Besonderheiten verschwinden würden. Ganz im Gegenteil: Dem Regionalen und Lokalen kommt innerhalb dieser globalen Populärkultur eine besonderer Bedeutung zu: Nur „von hier“ ist in Zeiten, da es in großen Supermärkten in Deutschland ganz normal ist, asiatische Spezialitäten und Süßigkeiten aus den USA einkaufen zu können, etwas wirklich Exotisches. Als eine leicht absurde Blüte ist es zu betrachten, dass es in jüngerer Zeit auch Sterne-Lokale gibt, die den Luxuskunden „Hyperlocal Food“ bieten: Für die anspruchsvollen Gäste sevieren sie Kreationen mit Kräutern, Obst und Gemüse vom eigenen (Dach-)Garten des Restaurants. Geht diese Wertschätzung der eigenen Region mit einem globalisierten Bewusstsein einher, sprechen Fachleute von Glokalisierung. Getreu dem Motto „think global, act local“ geht es darum, ein Bewusstsein für die globalen Auswirkungen des örtlichen Handelns zu haben. Es ist durchaus positiv, dass immer mehr Kunden kritisch beleuchten, unter welchen Bedingungen die Kleidung genäht wird, die sie kaufen, oder wie nachhaltig dort, wo die Tomaten erzeugt werden, mit dem Grundwasser umgegangen wird. 

Globalisierung ist Megatrend, der nicht nur die Märkte weltweit betrifft, sondern sich auch im Bereich der Kultur und der Medien niederschlägt. In einer Wirtschaft, die zunehmend von unkonventionellen Einfällen lebt, ist dieser Blick über den Tellerrand buchstäblich Gold wert. Die Personalchefs aller größeren Unternehmen setzen zunehmend darauf, Menschen aus möglichst unterschiedlichen Kulturkreisen in ihre Firma zu holen. Sie tun das nicht aus falsch verstandener Politischer Correctness heraus, sondern folgen vor allem ökonomischem Kalkül: Je breiter ein Unternehmen sich kulturell aufstellt, desto mehr Chancen hat es, auf dem globalen Markt zu bestehen. 

Globalisierungsgegner weltweit sehen in der Globalisierung nur Schlimmes. Ihre Gegenmaßnahmen bestehen aus dem Ruf nach einer nationalistischen und protektionistischen Politik. Grenzen sollen dicht gemacht werden, hohe Zölle für ausländische Waren eingeführt werden, fordern sie. Dabei sind Globalisierung und Nationalstaaten keine unversöhnlichen Gegensätze. Glokale Strukturen kann es neben bestehenden Strukturen geben. Sie bewegen sich zwischen bestehenden nationalstaatlichen und nationübergreifenden Regeln und an ihnen vorbei – „und sind gerade dadurch einflussreiche Strömungen des globalen Wandels im 21. Jahrhundert“, heißt es auf der Webseite des Zukunfsinstituts (www.zukunftsinstitut.de), Fachstelle für die Megatrends der Gegenwart.

Markus Hauck

Leiter der Pressestelle im Bistum Würzburg, Mitglied der basis-Redaktion.

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