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Große Städte, große Veränderungen

Große Städte, große Veränderungen

Was Urbanisierung im 21. Jahrhundert bedeutet

von Markus Hauck

An dieses Bild vom Beginn der Coronapandemie erinnern sich viele noch sehr gut: Die chinesische Stadt Wuhan war praktisch komplett von der Außenwelt abgeschirmt. Praktisch niemand kam mehr hinein oder heraus. Gespenstisch, wie schnell das Leben in einer solchen scheinbar nie ruhenden Metropole scheinbar völlig zum Erliegen kam. Nach deutschen Verhältnissen ist Wuhan mit über zehn Millionen Einwohnern ein Moloch, im gesamtchinesischen Ranking steht sie aber weit abgeschlagen hinter Shanghai mit knapp 28 Millionen Einwohnern und Peking mit etwa 21 Millionen Bewohnern.

Es waren zugleich dieselben Großstädte Chinas, in denen die Menschen zuerst gegen die strikte Null-Covid-Politik der kommunistischen Partei aufbegehrten. Kein Wunder: Im urbanen Raum spitzen sich die wichtigsten Fragestellungen der heutigen Zeit zu: Der Kampf gegen den Klimawandel entscheidet sich in den Städten genauso mit wie die Frage nach sozialer Gerechtigkeit oder nach der Zukunft der Arbeit und der Mobilität. Es sind diese Bereiche, die neben vielerlei Spannung auch jede Menge an Potenzial für neue Entwicklungen bieten, schreibt das Zukunftsinstitut in seiner Betrachtung zum Megatrend Urbanisierung: „Der Blick auf die Wirkung gestalteter Umwelten auf die menschliche Lebensqualität wird dabei nicht nur für die Konzeption zukünftiger städtischer, sondern auch ruraler Lebensräume zentral.“

Fast sechs von zehn Menschen weltweit leben in einer Stadt

Schauen wir auf die nackten Fakten: Zur Jahresmitte 2021 lebten weltweit geschätzt 4,5 der insgesamt 7,9 Milliarden Menschen in Städten. Das entspricht 57 Prozent der Weltbevölkerung. Im Jahr 2030 wird dieser Anteil bei 60 Prozent liegen. Von den aktuell 34 Megastädten – also Städten mit mehr als zehn Millionen Einwohnern – liegen mit 21 die meisten in Asien, gefolgt von Lateinamerika mit sechs und Afrika mit drei. Die größte Stadt der Welt ist aktuell der Ballungsraum Tokio. Dort leben 37 Millionen Menschen, gefolgt von Delhi mit 31 Millionen und Shanghai mit 28 Millionen. Da mutet Berlin als Deutschlands größte Stadt mit seinen etwa 3,6 Millionen Einwohnern vergleichsweise winzig an. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass weltweit die Zahl der Megastädte bis 2030 auf 43 steigen wird. Dann wird Delhi vermutlich mit knapp 39 Millionen Einwohnern die größte Stadt der Welt sein. Wer die Stadt kennt, fragt sich, wie dann wohl der Verkehr in der Rush-Hour aussieht.

Aber zurück zur anfangs erwähnten Coronapandemie: Damals hatten Stadtforscher vor allem eine Frage: Ist diese Seuche vielleicht das Ende der Verstädterung? Sind die Erfahrungen aus dieser Zeit womöglich der Wendepunkt, der Menschen auf lange Sicht aus der Stadt wieder aufs Land zurücktreibt? Sicher ist, dass gerade während des Lockdowns das Land enorm an Attraktivität gewann. Viele ländliche Verwaltungen stöhnten, als Städter plötzlich ihr Ferienhaus zum zweiten Wohnsitz machen wollten, damit sie bei Polizeikontrollen unbehelligt ihre Fahrt aufs Land fortsetzen konnten. 

Es ist kein Geheimnis, dass die hohe soziale und physische Dichte Städte besonders leicht verwundbar macht. Dabei ist die Verdichtung der Metropolen auch ihre Stärke: Krisen und Katastrophen lassen sich hier strukturell schneller bewältigen als auf nationaler Ebene. Zum Beispiel sind die Wege für Helfer kurz, dem Stadtteil am anderen Ende weiß man sich verbunden, sei es, weil dort Freunde und Verwandte wohnen oder weil dort die Freizeit verbracht wird. Außerdem ist die Dichte an Krankenhäusern, technischen Einrichtungen und überhaupt Know-how in den Ballungsräumen größer als auf dem flachen Land. Das macht Städte und ihre Einwohner besonders resilient. 

Was Städte so attraktiv macht

Zudem sind und bleiben Städte Magnete für kreative Köpfe. Sie sind die essenziellen Treiber von Innovation und Fortschritt und sie sind was die Wirtschaft angeht die wirtschaftlichen Machtzentren. Kennen Sie ein Dorf, das als großer Bankenstandort gilt? Eine ländliche Gegend, die als Hort der technischen Innovation gilt? Irgendeine Kleinstadt, die das Mekka für Modetrends ist? 

Das ist wenig verwunderlich: Die Attraktivität der Großstädte fußt auf einer Vielzahl von Faktoren. Da gibt es zum einen differenzierten Arbeitsmarkt. Menschen ohne besondere berufliche Qualifikation finden dort einen ebenso Beschäftigung wie Spezialisten. Zum anderen verheißt die Anonymität einer Metropole eine Freiheit, bei der Konventionen und sozialer Druck keinerlei Bedeutung mehr haben, ganz anders als oftmals in kleinen Kommunen auf dem Land. 

Machen wir uns aber nichts vor: Die 100-prozentig trennscharfe Unterscheidung der Siedlungslandschaft in Deutschland zwischen Land auf der einen und (Groß-)Stadt auf der anderen Seite gibt es nicht. Die meisten Deutschen leben ebenso wenig „aufm Dorf“ wie in einer schillernden Megastadt. Schon eher in kleinen Städten oder solchen bis vielleicht 300.000 Einwohnern. Von daher ist die strikte Trennung von Stadt und Land längst überholt. Das Zukunftsinstitut spricht von „hybriden Lebensräumen“ und meint das nicht nur im physischen, sondern auch im mentalen Sinn: Wie jemand denkt, lebt und in welchen sozialen Strukturen das geschieht: Alles das lässt sich nicht mehr in einem simplen Stadt-Land-Schema einordnen. Die Trennung von Stadt und Land ist aus dieser Perspektive überholt: Wir haben es stattdessen vielmehr mit hybriden Lebensräumen zu tun – nicht nur physisch, sondern auch mental: Denn auch Geisteshaltungen, Lebensstile und soziale Strukturen lassen sich nicht mehr eindeutig dem Stadt-Land-Schema zuordnen. 

Das Land wird städtischer – und die Städte ländlicher

Das lässt sich unter anderem daran erkennen, dass immer mehr Menschen sich ein Stadtleben wünschen, das weniger von Hektik geprägt ist. Stichwort: Entschleunigung. Im urbanen Raum geht das Bestreben dahin, sich das Beste aus dem Land in der Stadt zu sichern. Unverblümt hat Corona aufgezeigt, dass es nicht unbedingt von Vorteil ist, wenn das, was wir jeden Tag essen, womöglich über den halben Globus herbeigekarrt wird. Das hat den Wunsch nach Versorgung aus der Region vorangebracht. Gemeinschaftliche und offene Konzepte wie Urban Farming oder Gardening haben in viele Städten großen Zulauf. Die Menschen merken: Vom gemeinsamen, naturnahen Anbau von Obst und Gemüse profitieren Natur, Mensch und am Ende sogar der eigene Geldbeutel.

Selten war es unwichtiger für den Beruf, wo das eigene Bett steht. Wer nicht gerade Kraftfahrzeuge repariert, auf dem Bau tätig ist oder in der Pflege arbeitet, kann seine Tätigkeit – Internetanschluss vorausgesetzt – heute dort ausüben, wo es gerade am einfachsten ist. Adieu Pendlerstress. 

Neben der „Verdörflichung“ der Stadt kommt es derzeit aber auch zu einer „Verstädterung“ des Landes. Urbanität löst sich vom physischen Raum: All die Rückkehrer, Wochenend-Dörflerinnen und Landliebhaber bringen ihr von der Großstadt geprägtes Denken mit und verändern ihr Umfeld – ob bewusst oder unbewusst. Nicht selten gestalten sie Siedlungen neu, in denen sie ihre Vorstellungen eines optimalen gemeinschaftlichen Zusammenlebens verwirklichen können. Plötzlich zeigt die vermeintliche Provinz ein überraschend progressives Gesicht. Um es mit Walter Giller zu sagen: Es bleibt spannend.

Markus Hauck

Leiter der Pressestelle im Bistum Würzburg, Mitglied der basis-Redaktion.

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