0261.604090

„Haben“, „Mehr“ und „Wachstum“ war gestern

„Haben“, „Mehr“ und „Wachstum“ war gestern

Hinter dem Megatrend Neo-Ökologie verbirgt sich so viel mehr als vermeintlich Müsli und Jutetasche 

von Markus Hauck

Spätestens seit der Coronapandemie wissen wir: Völlige Kontrolle über die Natur ist eine Illusion. Traumatische Erfahrungen wie die vergangenen drei Jahre haben gesamtgesellschaftlich die Erkenntnis vorangebracht: Der Mensch steht nicht losgelöst über der Natur, sondern ist Teil dieses umfassenderen, sich selbst organisierenden Systems.

Im Megatrend Neo-Ökologie bündelt sich die Reaktion der Menschen, die, um es theologisch auszurücken, sich wieder als Teil der Schöpfung verstehen und diese zu erhalten suchen. Neo-Ökologie ist ein Paket an Werten, das Auswirkungen in jeden Bereich des Alltags hinein hat. Ob Kaufentscheidungen, gesellschaftliche Handlungsmoral oder Unternehmensstrategien: Weil Nachhaltigkeit ein wichtiger Wert ist, werden viele bislang gebräuchliche Verhaltensweisen fundamental neu ausgerichtet, beispielsweise in Handel, Kultur und Politik. 

Noch vor 30 Jahren waren Umweltbewusstsein und der Gedanke an Nachhaltigkeit eher Privatsache und wurden von der Mehrheit eher mit Augenrollen quittiert. Heute sind sie Teil einer gesellschaftlichen Bewegung und zunehmend ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Klar, der Mensch greift auch im 21. Jahrhundert in das System Natur ein und gestaltet es um. Inzwischen geht es dabei aber, anders als früher, immer mehr um zukunftsfähige und pragmatische Lösungsansätze, bei denen Mensch und Technik nicht als Problem, sondern als Schlüssel für eine neo-ökologische Zukunft gesehen werden.

Landwirte zum Beispiel stellen von Mono- auf Mischkulturen oder gar ökologischen Landbau um, damit sie die Gefahr von Ernteverlusten reduzieren. Ganze Länder organisieren ihre Wirtschaftsweise um, um die Zukunft zu sichern. Sie tun das beispielsweise durch Umstellen auf nachhaltigen Tourismus, erneuerbare Energien und ökologische Landwirtschaft. Der Hintergrund ist immer gleich: Um selbst bestehen zu können, passt man sich an geänderte Umstände an. Gegenwärtig verändern sich alle Wirtschaftsbereiche in diese Richtung, von der Sicherung der Standortqualität bis zur Adressierung der neuen Erwartungsmuster, die den Konsum im 21. Jahrhundert kennzeichnen.

Besser statt mehr

Ein Kennzeichen des Megatrends Neo-Ökologie ist, dass Umwelt- und Verantwortungsbewusstsein der Menschen zunehmen. Konsum erfolgt immer mehr unter ökologischen und sozial-ethischen Aspekten. Die allgemeine Akzeptanz dafür steigt, je vielfältiger, kostengünstiger und niedrigschwelliger die Angebotspalette wird. Einen roten Faden bildet dabei der Trend in Richtung einer höheren Lebensqualität. „Besser statt mehr“ lautet immer häufiger die Leitdevise individueller und kollektiver Strategien. Das sieht konkret zum Beispiel so aus, dass besseres, weil für Tier und Umwelt schonenderes Fleisch auf dem Teller landet, dafür aber bewusst weniger. In der Stadt werden heute lieber neue Grünflächen angelegt statt ein neues Einkaufszentrum zu errichten. Auch der Trend zur Slow Culture wird in diesem Kontext weiter vorangetrieben. Im Beruf eingeforderte hohe Flexibilität, permanente Zeitnot im Alltag und ständiges Unterwegssein in einer hypermobilen Gesellschaft empfinden viele inzwischen als Belastung. Daher sucht eine steigende Zahl von Menschen nach Entschleunigung und nach Gelegenheiten, bewusster und achtsamer zu leben und zu konsumieren.

In diese Zielrichtung geht der anhaltende Trend zum Minimalismus: Wer bewusst auf Besitz und Konsum verzichtet, tut das meist auch, um damit etwas in der Gesellschaft zu bewegen. Die Coronakrise hat den Minimalismus im großen Stil salonfähig gemacht. Der Lockdown brachte eine Entschleunigung mit sich, die viel Zeit zum kritischen Überdenken der persönlichen Konsumgewohnheiten schenkte. Viel Überflüssiges wurde während der Pandemie, als viele wochenlang zuhause waren, ausgemistet. 

Achtsamkeit als Antwort auf Reizüberflutung

Achtsamkeit ist quasi der große Gegentrend zur permanenten Reizüberflutung des digitalen Zeitalters und der durch Social Media befeuerten Erregungskultur. Bio ist seit Jahren im Trend: bei Kleidung, Kosmetik, und selbstverständlich bei Essen und Getränken. Flankiert von einer Vielzahl von Siegeln, Zertifikaten und Richtlinien steht „Bio“ dabei sowohl für ökologische Aspekte als auch für höhere Qualität – und verspricht mehr Genuss.

Vegetarische und vegane Ernährung waren früher eher randständige Alternativen. Heute sind sie, zumindest im städtischen Umfeld, längst etabliert. Die neuen technologischen Möglichkeiten der Agrikultur werfen dabei zugleich  auch neue Fragen auf: Was passiert mit bekannten Kategorien wie „aus biologischer Landwirtschaft“ oder „vegan“, wenn Gemüse schon heute ohne Erde wachsen kann und Fleisch und Fisch im Labor hergestellt werden? Wird es Bio-Hydroponik, also die Aufzucht von Pflanzen in Systemen, welche die Wurzeln direkt mit Wasser und Nährstoffen versorgen, geben und ohne Tierleid und -töten erzeugtes Fleisch aus der Petrischale mit Öko-Siegel?

Plastik – Segen und Fluch

Neben neo-ökologischen Bio-Produkten und Strategien des Fairen Handels etabliert sich auch der Trend zu „Zero Waste“, also kompletter Müllvermeidung, immer weiter als zukunftsweisender Ansatz nachhaltigen Konsumierens. Der Gedanke ist simpel: Verpackungsmaterial, das gar nicht erst produziert wird, muss auch nicht mit viel Aufwand entsorgt werden. Das gilt vor allem für Kunststoffe. Viele nützliche Produkte werden aus „Plastik“ gefertigt. Es entstehen aber auch gewaltige Mengen an Plastikabfall. Tagtäglich landet unvermeidlich Mikroplastik in unserer Nahrung. Auch das ist ein Grund, endlich spürbar zu handeln. 

2019 verabschiedete das EU-Parlament eine „Kunststoffstrategie“, um das Bewusstsein der Konsumierenden zu stärken und Hersteller in die Pflicht zu nehmen. Zusätzlich wird an Alternativen zu herkömmlichen Plastikverpackungen geforscht. Vor allem Start-ups entwickeln mit Nachdruck ökologische Substitute für Folien und Plastikbecher, von essbaren Eislöffeln aus Kakaoschale bis zu kompostierbaren Behältnissen aus Maisstärke.

Doch trotz Unverpackt-Läden, alternativen Verpackungstools wie Bienenwachstüchern oder der Verbannung von Plastiktüten aus Supermärkten: Das Beyond-Plastic-Prinzip (d.h. Leben ohne Plastik) lässt sich im Alltag der Verbraucherinnen und Verbraucher noch immer schwer umsetzen. Noch fehlen praktikable Lösungen für die Unterwegskultur der vernetzten Gesellschaft und den Logistikbedarf gegenwärtiger Handelsketten. Zugleich steigt der Druck auf produzierende Unternehmen in Sachen Plastikvermeidung und -alternativen stetig, allen voran auf Großkonzerne. Regional-, Bio- oder Fair-Trade-Regale gehören heute in den Supermärkten zum Standard. In ähnlicher Weise dürften sich auch Beyond-Plastic- und Zero-Waste-Angebote weiter etablieren.

Nutzen statt besitzen

Das beweist: Konsumspezifische Veränderungsdynamiken werden generell stark vorangetrieben durch eine wachsende Einflussnahme auf Verbraucherseite. Das Leitprinzip „Nutzen statt besitzen“ hat sich auf große Bereiche der Businesswelt ausgedehnt und ist zu einem neuen Wertschöpfungsmodell geworden, vor allem dort, wo es um begrenzte Ressourcen geht. „Sharing“ (Teilen) ist das Leitmotiv einer neuen Generation von Konsumierenden, die mit dem Tauschen und Teilen im Internet aufgewachsen ist. In Wechselwirkung mit anderen Megatrends wie Mobilität und Konnektivität wird sich diese Dynamik künftig noch verstärken, speziell in Branchen, die bisher von dem Phänomen noch nicht erfasst waren. Die nächste Wirtschaft wird nach neuen, auf Sinn und Nachhaltigkeit ausgerichteten Kriterien funktionieren. 

Sukzessive wird die bisherige Form unseres Wirtschaftens damit abgelöst durch neue Dimensionen der Wertschöpfung, die nicht mehr auf den herkömmlichen Vorstellungen von Wachstums- und Profitmaximierung fokussieren. Der Wohlstand von morgen beruht auf neuen Werten – und auf einem neuen Begriff von Wachstum, das auf qualitative statt quantitative Kriterien setzt. Zunehmend werden in diesem Prozess auch staatliche Regulierungen diskutiert und von den Konsumierenden eingefordert. Die Idee der Gemeinwohlökonomie bietet dafür konkrete Konzepte an: alternative Wirtschaftsmodelle zur Markt- und Planwirtschaft, die auf Werten wie Vertrauen, Wertschätzung, Solidarität und ökologischer Nachhaltigkeit basieren. Wirtschaftlicher Erfolg wird in der Gemeinwohlökonomie nicht am Umsatz gemessen, sondern an Kriterien wie Lebensqualität, Bedürfnisbefriedigung und Umweltfreundlichkeit. Diese Werte könnten mit dem Gemeinwohl-Produkt gemessen werden, analog zum heutigen Bruttoinlandsprodukt. Und wer weiß: Vielleicht kommt in wenigen Jahren das leicht veränderte Remake eines Hits aus den 1980er Jahren auf den Markt: „Ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern unser Gemeinwohl-Produkt.“

Markus Hauck

Leiter der Pressestelle im Bistum Würzburg, Mitglied der basis-Redaktion.

Download basis → Shop


Beitragsfoto: © 2ragon · stock.adobe.com