0261.604090

Heimat als Grundbedürfnis des Menschen

Heimat als Grundbedürfnis des Menschen

von Hubertus Brantzen

Die gegenwärtige politische Situation weckt in vielen Menschen das Gefühl, dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Noch arbeitet sich die Weltgemeinschaft an dem Krieg in der Ukraine ab: Geopolitische Verflechtungen verändern sich, in langen Prozessen entscheiden sich Freunde und Gegner, wer wem in diesem Konflikt hilft, und alle stehen hilflos der Frage gegenüber, welche internationalen Auswirkungen der Krieg nach sich ziehen wird. Parallel baut sich bereits im Nahen Osten das nächste, gewaltige Kriegsszenarium auf, von dem noch niemand abschätzen kann, ob es sich zu einem Flächenbrand in der Region und darüber hinaus ausweitet. Und weiter gibt es die ersten Spekulationen, ob China im Windschatten dieser Ereignisse versuchen wird, sich Taiwan einzuverleiben.

Wir wollen sicher leben

Was verunsichert die Menschen rund um den Erdball so sehr in dieser Situation? Es gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen, sichere Grenzen um ein eigenes Territorium zu besitzen. Dort darf der Mensch selbst bestimmen, wer Zutritt hat und wer nicht. Dieses Bedürfnis, das stammesgeschichtlich über Jahrtausende gewachsen und selbst bei Tieren deutlich zu beobachten ist, wird dann umso stärker, wenn es, durch äußere Umstände bedingt, nicht mehr erfüllt wird. Das gilt für das Leben im Kleinen wie im Großen.

Wenn es darum geht, das eigene Territorium zu schützen, spielen nicht nur Angst oder der Impuls zur Verteidigung eine Rolle, sondern auch Macht, Gier nach Bedeutung, Größenwahn. So nutzen Machthaber das Bedürfnis nach sicheren Grenzen aus und manipulieren die Menschen so, dass sie glauben, zum eigenen Schutz andere mit einem Krieg überfallen zu müssen. Dabei spielen geschichtliche Argumente eine Rolle, wie beispielsweise: Dieses Territorium gehörte schon immer zu uns! Oder ideologische Argumente befeuern den Hass auf die überfallenen Nachbarn, wie: Wir müssen die Ungläubigen vernichten! Und wenn Unheil und unsägliches Leid in den Auseinandersetzungen alle beteiligten Seiten überrollen, ist es meist schon zu spät, den militärischen und propagandistischen Apparat noch stoppen zu können, ohne vor sich und der Welt das Gesicht zu verlieren.  

Das Motiv der Heimat

Ein Blick in die Geschichte: Seit dem 19. Jahrhundert taucht immer dann der Begriff „Heimat“ auf, ja entstehen ganze Heimatbewegungen, wenn sozio-kulturelle Krisen die Schutzräume der Menschen bedrohen. Um 1880 entstand eine solche Bewegung als Folge der Industrialisierung, die das Lebensgefühl und die Lebensumstände vieler Menschen veränderte. „Heimat“ wurde zur Antwort auf die Sehnsucht nach einem heilen Leben auf dem Land im Gegensatz zu dem Leben, das das „heimatlose“ Industrieproletariat in den Städten führen musste. 

In Deutschland folgten Heimatwellen nach den beiden verlorenen Weltkriegen. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde eine solche Welle besonders durch die Heimatvertriebenen ausgelöst. Acht Millionen Menschen kamen auf das Gebiet der späteren Bundesrepublik, 4,1 Millionen in die spätere DDR.

Mit dem wachsenden Wohlstand in der Bundesrepublik verstummte allmählich der Ruf nach Heimat. Viele konnten sich ein eigenes Heim schaffen – mit einem Zaun um ihr Eigentum. In fetten Jahren brauchte man nicht über Heimat zu reden. Man hatte sie. Eine Zeitlang war Heimat als romantisierender Begriff sogar verpönt. 

Schleichend arbeitet sich nun wieder „Heimat“ an die Oberfläche unserer Gesellschaft. Kulturelle Krisen lösen eine erneute Unsicherheit aus. Traditionelle Werte, Lebensweisen und Weltbilder schwinden, und die kriegerischen Auseinandersetzungen spielen sich in relativer Nähe ab. Man ist überfordert von den Konflikten in der eigenen Gesellschaft und in der Welt, die durch die Medien schon lange in unseren Wohnzimmern präsent sind. Das Zusammentreffen von Klimawandel, Migration, Pandemie, Inflation und Krieg versetzt viele in einen Zustand, in dem sie am liebsten die Augen vor der Welt verschließen würden. Es entsteht der Ruf nach einem einfachen und verstehbaren Weltbild. „Heimat“ wird in dieser Situation gleichsam ein Programm zur Erhaltung oder Wiederherstellung von überschaubaren Lebenszusammenhängen.

Der Rückzug ins Private

Was tut der Mensch, wenn er sich überfordert fühlt? Er wird aggressiv wie ein Tier, das in die Enge getrieben wird – oder er zieht sich zurück. Und beides erleben wir in immer stärkerem Ausmaß. Über die zunehmende Aggression, die sich auch in Fremdenhass oder Antisemitismus äußern kann, berichten täglich die Medien. Der Rückzug ins Private wurde gerade in diesem Jahr eindrucksvoll durch einschlägige Umfragen thematisiert.

Letzteres baut sich offenbar immer mehr zu einem regelrechten Trend aus. Die Möbelindustrie boomt, Gartencenter freuen sich über Gewinn. Die Deutschen schaffen sich eine alternative und überschaubare Nah-Welt, indem sie ihre Wohnungen gemütlicher und an„heim“elnd und ihre Gärten paradiesisch gestalten. Sie sind bereit, dafür viel Geld auszugeben. Sie schauen mehr auf das kleine Glück zu Hause und verbringen lieber ihre Zeit mit der Familie und Freunden, als sich mit den Konflikten der Welt auseinanderzusetzen. 

Mit anderen Worten: Wenn die größeren Räume in der Gesellschaft und im Staat zu wenig Heimat und zu wenig das Gefühl von Geborgenheit vermitteln, dann holen sich die Menschen diese Heimat im kleinen und nahen Raum der Familie. Doch wenn auch in diesem Raum das Bedürfnis nach Sicherheit und Zufriedenheit nicht befriedigt wird, bleiben nur die psychische Regression oder die Aggression nach außen. Die Aggression nach außen kann sich so äußern, dass Menschen gegen alle revoltieren, die eigentlich die eigene Sicherheit schützen sollen: gegen den Staat, die Politiker, die Polizei, sogar die Rettungskräfte.

Aufgabe: Beheimatung

Welche Konsequenzen mögen wir aus allen diesen Erkenntnissen ziehen? Eine erste Konsequenz sollte wohl die sein zu verstehen, warum Menschen in konfliktreichen Situationen so handeln, wie sie handeln. Verurteilen oder Jammern über schwierige Zeiten bringt nicht weiter und lähmt.

Zu diesem Verstehen gehört auch, mich selbst zu beobachten, inwiefern ich selbst von diesen Strömungen und Besorgnissen betroffen bin. Schotte ich mich selbst vor den großen Problemen ab und sorge lieber für ein Wohlfühlen in meiner kleinen Welt? Oder lasse ich mich zum Beispiel von der Heimatlosigkeit der Menschen, die sich auf den Weg zu einem besseren Leben gemacht haben, anrühren und entwickle Phantasie, wie ich bescheiden mithelfen kann, ihnen eine neue Heimat zu bereiten? 

Das bisher gezeichnete Bild, was Heimat bedeutet, muss durch einen weiteren Aspekt ergänzt werden. Heimat ist nicht nur die Sicherheit innerhalb eines geschützten Territoriums. Heimat bedeutet auch Geborgenheit in einer Gemeinschaft von Menschen. Hier eröffnet sich ein weites Feld, wie Beheimatung effektiv gestaltet werden kann. Möglichkeiten bieten sich in einer Ehe und Partnerschaft, in der sich zwei Menschen gegenseitig Heimat gewähren. Heimat konkret zu schenken bedeutet weiter, Kindern, die uns anvertraut sind, Zeit und Energie zu schenken. Heimat im Nahbereich entsteht durch die Pflege von Nachbarschaft und Freundschaft. Das sind langzeit-wirkende, nachhaltige Beiträge, die Menschen zudem befähigen, mit schweren Situationen umzugehen. Stichwort Resilienz.

Schließlich bedarf das Bild von Heimat eines weiteren Elements, das man mit „Sinn“ bezeichnen könnte. Werte, Ideen und Ideale bilden ein Fundament, auf dem eine Heimat schenkende Gemeinschaft aufgebaut werden kann. In dieser Gemeinschaft sind alle Gewinner. Wenn ich nämlich von anderen gebraucht werde und meine Hilfe beansprucht wird, erhalte ich meinerseits Anerkennung und Wertschätzung zurück. Wenn ich mich für „eine gute Sache“ einsetze, mich für ein Ziel engagiere, das ich selbst und andere für wertvoll erachten, dann entsteht Zufriedenheit. Wenn ich auf der Grundlage meines Glaubens motiviert bin, dort anzupacken, wohin ich gestellt oder geführt werde, dann wird mir innere Ruhe geschenkt.

Und für alles zusammen gilt: Die kleinsten Beiträge sind Bausteine für ein großes Mosaik, das das Lebenshaus der Menschen als Heimat darstellt.

Hubertus Brantzen

Prof. Dr., Pastoraltheologe, Mainz.

Download basis → Shop


Beitragsfoto: © Jenny Sturm · stock.adobe.com

Datenschutz
Patris Verlag, Redaktion basis, Inhaber: Patris Verlag (Firmensitz: Deutschland), würde gerne mit externen Diensten personenbezogene Daten verarbeiten. Dies ist für die Nutzung der Website nicht notwendig, ermöglicht aber eine noch engere Interaktion mit Ihnen. Falls gewünscht, treffen Sie bitte eine Auswahl:
Datenschutz
Patris Verlag, Redaktion basis, Inhaber: Patris Verlag (Firmensitz: Deutschland), würde gerne mit externen Diensten personenbezogene Daten verarbeiten. Dies ist für die Nutzung der Website nicht notwendig, ermöglicht aber eine noch engere Interaktion mit Ihnen. Falls gewünscht, treffen Sie bitte eine Auswahl: