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Ich bin oft vor dem Namen Jesu erschrocken

„Ich bin oft vor dem Namen Jesu erschrocken“

Ein Mönch veränderte die Welt: Martin Luther wollte keine neue Kirche gründen – und löste doch eine Revolution aus, die bis heute nachwirkt

von Christian Feldmann

Was über Martin Luther erzählt wird, stimmt nicht immer. Was er selbst von sich berichtet, noch viel weniger.

Vermutlich hat nicht der Professor Luther die berühmten 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche geschlagen, sondern der Pedell der Universität, wie es üblich und von den Statuten sogar vorgeschrieben war – wenn es den Thesenanschlag überhaupt gegeben hat!

Der trotzige Satz „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ ist zwar in die Geschichte eingegangen und gehört zum Repertoire gängiger Redewendungen – aber Luther hat ihn nie gesagt vor dem in Worms versammelten Reichstag.

Seine Bibelübersetzung war zweifellos die schönste, genaueste und einflussreichste – aber keineswegs die erste. Schon vor Luther gab es vierzehn oberdeutsche und vier niederdeutsche Vollbibeln, ganz zu schweigen von den vielen Auswahlausgaben und den rund hundert Sammlungen der Sonntagsevangelien, die in den fünf Jahrzehnten vor der „Lutherbibel“ erschienen sind.

Reformator wider Willen

Und noch mehr: Luthers kritische, teils dezent, teils empört formulierte Anmerkungen zur Ablasspraxis entsprachen weitgehend traditioneller Theologie und offizieller römischer Lehre. Die Extremisten in den eigenen Reihen, die aus der religiösen Freiheitsbotschaft unbefangen politische und gesellschaftliche Revolutionsprogramme ableiteten, stoppte er mit eiserner Konsequenz, auch wenn dabei Blut floss. Er wies alle Versuche ab, ihn zum politischen Führer zu machen. Er wollte keine neue Kirche gründen, sondern dabei helfen, die Christenheit zu ihren schlichten Anfängen zurückzuführen. Ein Reformator wider Willen.

Und doch hat er die Welt verändert. Die von ihm ausgelöste Bewegung beendete das Mittelalter – als Epoche der Einheit von irdischer und himmlischer Welt und der kirchlichen Kontrolle über die Gesellschaft. Er verstand das Christsein als individuelle Haltung, nicht mehr als automatischen Bestandteil einer politischen oder gesellschaftlichen Identität, und machte den Menschen mündig, weil zwischen ihm und Gott nun nur noch die Bibel stand, keine kirchlichen oder staatlichen Autoritäten. In der idealen Theorie, versteht sich.

Merkwürdig, dass man sich heute noch so für ihn interessiert, fünfhundert Jahre nach der Debatte um die „95 Thesen“ von Wittenberg. Wer soll in einer Zeit, die an Gottes Existenz überhaupt zweifelt, Luthers verzweifelte Suche nach einem gnädigen Vater im Himmel verstehen? …

Christian Feldmann

geb. 1950, Theologe und Soziologe, Journalist und freier Schriftsteller, Verfasser zahlreicher Biographien von Heiligen und spirituellen Querköpfen.

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