0261.604090

Ich mach‘ mir die Welt, wie sie mir gefällt

Ich mach‘ mir die Welt, wie sie mir gefällt

Warum wir unsere komplizierte Welt vereinfachen

von Klaus Glas

Wir wollen am liebsten einfache Antworten auf manche Fragen des Lebens, etwa auf folgende: a) Ist das Corona-Virus gefährlich oder nicht? b) Stimmt es, dass über 500 Wissenschaftler den Klimawandel bezweifeln? c) Schaden Smartphones unter 6-jährigen Kindern?

Der Mensch kann nicht anders: er bildet sich Urteile über Personen, Ereignisse und Dinge. Jede und jeder hat eine Meinung zu Cosma Shiva Hagen und Covid-19, Peter Wohlleben und Wohnmobile, Papst Franziskus und Plastikflaschen. 

Manche Intellektuelle heben sich gern vom gemeinen Volk ab. Sie sind überzeugt, sie bildeten sich differenzierte Urteile aufgrund eines immerwährenden rationalen Diskurses. Diese Vorstellung selber ist unvernünftig. Denn das Gehirn funktioniert immer gleich, wenn es darum geht, sich Überzeugungen zu bilden: vor dem bewussten Urteil haben wir eine unbewusste Bewertung getroffen. Die automatische Bewertung dient dazu, sich in einer gefahrvollen Welt schnell zurechtzufinden. Aufgrund einer angeborenen Negativitäts-Dominanz checken wir ab, ob eine Person oder ein Ereignis schlecht für uns sein könnte. Wenn dies zutrifft und Angst ausgelöst wird, denken wir oft nicht weiter. Unser Urteil wird aber durch die Angst getrübt.

Schlecht wirkt stärker als gut 

Das kann zu fatalen Entscheidungen führen, die genau das heraufbeschwören, was man ursprünglich hatte verhindern wollen. Zwei Beispiele, die der Psychologe Gerd Gigerenzer in seinem Buch „Risiko“ anführt. 

2009 hatte das Britische Komitee für Arzneimittelsicherheit die Nachricht veröffentlicht, Antibabypillen der dritten Generation würden das Thrombose-Risiko um 100 Prozent erhöhen. Auch deutsche Medien berichteten darüber. Besorgte Frauen setzen daraufhin panisch die Pille ab. In der Folgezeit wurden rund 800 Frauen ungewollt schwanger. Schlimmer noch: es kam zu 13.000 zusätzlichen Abtreibungen. Was war geschehen? Die Frauen  hatten sich durch die Art der Berichterstattung bluffen lassen von einem relativen Risiko, mit dem unser Gehirn nicht gut umgehen kann. Die Betroffenen wären entspannter mit der Nachricht umgegangen, hätten die Medien das absolute Risiko nüchtern benannt. Die Wissenschaftler hatten festgestellt, dass 1 von 7.000 Frauen eine Thrombose entwickelt, sofern sie die Antibabypille nimmt. Bei der neuen Generation der Pille wurde dann bei 2 von 7.000 Frauen eine Thrombose festgestellt. Zwei Frauen sind doppelt so viele wie eine. Aus einem dramatisch inszenierten – in Wirklichkeit sehr geringen –  Risiko schlagen Medien immer wieder Kapital.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 vermieden es viele Menschen, in ein Flugzeug zu steigen. Aus Angst vor einem weiteren Terroranschlag stiegen viele US-AmerikanerInnen auf das scheinbar sichere Auto um. Die Zahl tödlicher Verkehrsunfälle stieg in den folgenden 12 Monaten an. 1.600 AmerikanerInnen kamen dabei auf der Straße ums Leben – zusätzlich zu jenen rund 40.000 Verkehrstoten, die es jedes Jahr in den Vereinigten Staaten gibt. 

Mit Faustregeln durchs Leben 

P. Josef Kentenich, der Gründer der Schönstatt-Bewegung, war sich bewusst, dass wir eine Wahrheit nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem emotionalen System im Kopf verarbeiten. Er sprach von einem „gemütsmäßigen Aufnehmen und damit gleichzeitig gemütsmäßigen Verarbeiten.“ Heute weiß man, dass Menschen bei der Verarbeitung von Informationen unbewusst Faustregeln einsetzen. Diese gefühlsmäßigen Abkürzungen werden als Urteilsheuristiken bezeichnet. Wenn man beispielsweise bei einer Quizfrage unsicher ist, sucht man in seinem Kopf nach Begriffen, die einem bekannt vorkommen. Wie heißt noch mal die Hauptstadt von Australien? Sydney, sagen viele spontan. Tatsächlich lautet die richtige Antwort: Canberra. Zur Anwendung kommt automatisch die Verfügbarkeits-Heuristik. Den Namen Sydney hat jede und jeder hierzulande schon mal gehört. Die Stadt hat mehr als 4 Millionen Einwohner, und man hat gleich das berühmte muschelförmige Opernhaus vor Augen. Dagegen ist die Hauptstadt vergleichsweise klein und hat kaum mehr Einwohner als Bochum. Über Canberra wird kaum im deutschen Fernsehen berichtet; es ist im neuronalen Netzwerk nicht gut verfügbar.

Bekannt ist auch die Repräsentations-Heuristik. Kürzlich hatte ein Patient diese bei mir aktiviert. (Natürlich kannte ich das Spielchen, spielte aber gerne mit.) Er notierte sich drei Begriffe auf einen Zettel und forderte mich dann auf, ihm eine Farbe, ein Werkzeug und ein Musikinstrument zu nennen. Wie aus der Pistole geschossen, antwortete ich „Rot, Hammer, Geige“. Mit Vergnügen präsentierte mir der junge Mann seine drei Wörter, die er richtig vorhergesagt hatte. Ich hatte klassische Prototypen von Dingen benannt, die mein Gehirn über die Jahre in Knotenpunkten meines neuronalen Netzwerks abgespeichert hatte. Der Verstand wurde gar nicht groß bemüht. Obwohl der doch eigentlich weiß, dass ich im Haushalt Schraubenschlüssel häufiger benutze, Blau meine Lieblingsfarbe ist, und ich in der Band „FLÖRT“ Gitarre spiele. 

Eine weitere Faustregel ist die Emotions-Heuristik. Wenn man sich bei einer Sache nicht sicher ist, kann man seine Emotionen als Informationsquelle nutzen. Man hört auf sein Bauchgefühl. Jemand sagt sich beispielsweise: „Zu dieser Sache habe ich mir noch keine Meinung gebildet. Aber die Kanzlerin sagt dazu dies und jenes; ich mag die Merkel. Und ich hab‘ ein gutes Gefühl, bei dem, was sie sagt.“ Und schwupps hat man sich ein Urteil gebildet, das man nicht mehr groß hinterfragen  will. Zahlreiche Studien zeigen übrigens, dass Leute in guter Laune positivere Urteile abgeben als Menschen in schlechter Umgebung.

Die britische Sozialpsychologin Louise Pendry fasst die Kenntnisse zur Kategorisierung der sozialen Welt zusammen: „Einfach ausgedrückt führt Kategorisierung zu einer Vereinfachung; sie verwandelt die Welt in einen geordneten, besser vorhersagbaren und kontrollierbaren Ort.“

Schubladen-Denken nicht wegzukriegen

Wir beobachten das Verhalten einer Person und schließen daraus auf ihren Charakter. Da ist zum Beispiel ein junger Mann mit Glatze und großem Tattoo auf dem Oberarm. In der Fußgängerzone läuft er schnellen Schrittes auf einen betagten Mann mit Stock zu. „Ein Skinhead, der gleich den alten Mann beklaut“, durchzuckt es eine Studentin, die auf einer Parkbank das Geschehen beobachtet. Was sie nicht sehen kann: der junge Mann hatte gesehen, wie sich ein Lieferwagen selbständig machte und langsam von hinten auf den Senior zurollte. Gerade noch rechtzeitig konnte er den älteren Herrn zur Seite ziehen. „Wenn wir jemanden beurteilen, schauen wir auf die Person und nehmen den Kontext nicht wahr, in dem das Verhalten auftritt“, sagt Jens Förster. Der Psychologe verweist auf den fundamentalen Wahrnehmungsfehler. Wenn wir eigenes Tun erklären, verweisen wir gewöhnlich auf situative Umstände. „Sorry, ich bin zu spät zur Besprechung gekommen, weil ich in einen Stau geraten bin.“ Beurteilen wir dagegen das Verhalten des Nächsten, kommen wir vorschnell auf Persönlichkeitsmerkmale zu sprechen. „Typisch für ihn; er ist halt unzuverlässig – und faul obendrein…“

Ob wir wollen oder nicht. Wir kriegen das Schubladen-Denken nicht aus unserem Kopf. Alles sehen wir zudem durch die Brille unserer originellen Persönlichkeit. Wir sehen die Dinge, nicht wie sie sind, sondern wie wir sind! 

Auf komplexe Fragen gibt es sowohl einfache als auch differenzierte Antworten. Betrachten Sie die Fragen vom Anfang des Artikels: a) Die Infektion mit Corona verläuft in den meisten Fällen mild und ist für die meisten Menschen nicht lebensbedrohlich. Wissenschaftler schätzen, dass 0,3 bis 0,7 Prozent der Infizierten an Covid-19 versterben (bundesgesundheitsministerium.de; quarks.de). 

b) Nur 4 von 69.406 WissenschaftlerInnen bestreiten den Klimawandel; das sind 0,006 % der Klima-ExpertInnen (Steven Pinker, 2018, „Aufklärung jetzt“, S. 180). c) Die übermäßige Nutzung von Smartphones kann bei Kita-Kindern zu Hyperaktivität, Konzentrationsstörungen und Sprachentwicklungsstörungen führen (BLIKK-Studie, 2016). 

Klaus Glas

Klinischer Psychologe in eigener Praxis, www.hoffnungsvoll-leben.de mit psychologisch-pädagogischen Lebenshilfen.

Download basis → Shop


Foto: © artfocus · stock.adobe.com