„Ich möchte eins sein mit dir, aber komm mir nicht zu nahe!“
Autonomie und Verbundenheit in der Partnerschaft
von Elmar Busse
An fast jedem Bahnsteig kann man Wiedersehensszenen beobachten und schlussfolgern, dass Sichfinden schöner ist als Sichhaben. Dieses Spiel von Nähe und Distanz durchzieht alle unsere familiären und freundschaftlichen Beziehungen. Der Psychologe Fritz Riemann brachte 1961 das Buch „Grundformen der Angst“ auf den Markt, in dem er eine Typologie der Menschen entwickelte, die er nach Krankheitsbildern benannte. Das kritisierten seine Kollegen. Aber wenn sich das Buch bis heute etwa 100.000 Mal verkaufen ließ, muss diese Typologie doch für den Alltagsgebrauch praktikabel sein.
Zwei zentrale Typen
In unserem Zusammenhang interessiert uns der depressive Typ und der schizoide Typ. Die typischen Merkmale des depressiven Typs beschreibt Riemann so: Er sehnt sich nach symbiotischer Verschmelzung mit dem anderen; er hat große Angst vor dem Verlassenwerden und der Einsamkeit. Die Freude am Ich-Sagen ist ihm fremd. Altruistische Tugenden sind typisch für ihn: Bescheidenheit, Verzichtsbereitschaft, Friedfertigkeit, Selbstlosigkeit, Mitgefühl, Mitleid. Weil er sich für andere aufreibt, gerät er schnell in einen Zustand der Überforderung und Erschöpfung.
Der schizoide Typ hat Angst vor der Abhängigkeit. Auf niemanden angewiesen zu sein, niemanden zu brauchen, niemandem verpflichtet zu sein, ist ihm entscheidend wichtig. Der konkrete Mensch bewegt sich irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. In der Partnerschaft habe ich oft erlebt, dass Frauen ihren Männern mehr Nähe anbieten und mehr Nähe erwarten, als diese annehmen und anbieten können. Das führt häufig zu Irritationen und Konflikten. Der libanesische Dichter Kahlil Gibran kleidete diese dauernde Spannung in die Worte und gibt damit Ehepartnern einen weisen Rat mit auf dem Weg in die gemeinsame Zukunft:
„Ihr wurdet zusammen geboren,
und ihr werdet auf immer zusammen sein.
Ihr werdet zusammen sein,
wenn die weißen Flügel des Todes
eure Tage scheiden.
Ja, ihr werdet selbst im stummen
Gedenken Gottes zusammen sein.
Aber lasst Raum zwischen euch.
Lasst die Winde des Himmels
zwischen euch tanzen.
Liebt einander, aber macht
die Liebe nicht zur Fessel:
lasst sie eher ein wogendes Meer
zwischen den Ufern eurer Seelen sein.“
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