Ihm heilig sein
Von Peter Wolf
Nach Jesu Sterben am Kreuz und der Erfahrung seiner Auferstehung ergab sich für die Jünger und die bald wachsende Schar der Christen die große Frage, wie denn Nachfolge in Zukunft gehen soll. Man konnte nicht mehr wie bisher einfach hinter Jesus hergehen und sich so als sein Jünger erweisen. Die bis dahin wortwörtliche Nachfolge konnte nur noch im übertragenen Sinne verstanden werden. In den synoptischen Evangelien finden wir immer wieder diese Vorstellung. Die Evangelisten erzählen von der Nachfolge der Jünger und dem Ruf des Herrn zur Nachfolge, um auch die späteren Christen dazu einzuladen.
Nachfolgen und bleiben
Das Johannesevangelium bezeugt uns einen weiterführenden Gedanken, der die Frage der nachösterlichen Situation ernstnimmt. Das entscheidende Wort bei Johannes heißt nicht „nachfolgen“, sondern „bleiben“. Aus dem „Hinter-Jesus-Hergehen“ wird „bleiben bei Jesus“ (Joh 1) und „bleiben am Weinstock“ (Joh 15). Die Weinstockrede aus den Abschiedsreden Jesu kennt ein Bleiben in Jesus, in seiner Liebe, und ein Bleiben des Herrn im Jünger und in dessen Liebe. „Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch“ (Joh 15,4).
Es ist etwas Großes um dieses gegenseitige „Bleiberecht“! In der Liebe geschieht diese neue Nähe, dieses Bleibenkönnen. In den Abschiedsreden des Johannesevangeliums sagt Jesus: „Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zum ihm kommen und bei ihm wohnen“ (Joh 14,23). Hier wird die Einwohnung Gottes zugesagt. Der Jünger wird zum Heiligtum, in dem Gott wohnt. Dies wird zum Heiligkeitsideal des jungen Christentums.
In Christus sein
Unabhängig vom Johannesevangelium war Paulus zu ganz ähnlichen Aussagen gekommen. Auch er ringt um eine neue Möglichkeit, Jesus nach Tod und Himmelfahrt nachzufolgen. Er ist fasziniert von dem Gedanken, „in Christus“ zu sein, in ihm zu leben, mit ihm zu leiden, zu sterben und aufzuerstehen (vgl. Rom 6). Christus ist ihm der Leib (Rom 12; 1 Kor 12), an dem er und wir alle Glieder sind. Paulus wird der große Künder der Christusgliedschaft, die die nachösterliche Weise der Christusnachfolge ist. Er lebt aus der Gewissheit, dass Christus in ihm lebt: „Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Aus solcher Verbundenheit und Gliedschaftswirklichkeit denkt Paulus die biblische Größe des Tempels, des Heiligtums neu durch und weckt in seinen Mitchristen das große Bewusstsein: „Der Tempel Gottes ist heilig, und der seid ihr“ (1 Kor 3, 17).
Christus wohnt ich euch
Der Gedanke des Völkerapostels Paulus wird fortgesetzt im Epheserbrief: „Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Schlussstein ist Christus Jesus selbst. Durch ihn wird der ganze Bau zusammengehalten und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn. Durch ihn werdet auch ihr zu einer Wohnung Gottes erbaut“ (Eph 2,21f). Dass auch der einzelne Christ diese Wirklichkeit für sich ganz ernstnehmen darf und soll, spricht aus der Bitte des Epheserbriefes: „Durch den Glauben wohne Christus in euren Herzen“ (Eph 3,17). Die gleiche Wirklichkeit setzt der später entstandene erste Petrusbrief voraus, wenn er die Christen aufruft: „Haltet Christus in euren Herzen heilig“ (1 Petr 3,15).
Aus diesen neutestamentlichen Zeugnissen spricht eine große Hochachtung vor dem Menschen und seiner Berufung als Christ. In Christus ist Gott den Menschen so nahe gekommen, dass auch die Stellung des Menschen sich verändert hat. Dem Menschen ist eine ungeheuere Würde zugedacht. Wir dürfen Christus in uns tragen, Wohnstätte Gottes sein und seinen heiligen Tempel bilden. Wir sind ihm heilig, so dürfen wir diese biblischen Aussagen zusammenfassen. Wir dürfen ihm etwas sein, ihm heilig und kostbar sein.
Der Wert und die Würde des Menschen
Es gilt, diese Wahrheit und Wirklichkeit ins Spiel zu bringen gegen alle Minderwertigkeitsgefühle, die dem modernen Menschen zu schaffen machen. Der moderne Mensch ist auf vielfache Weise verunsichert und in seinem Selbstwertgefühl verletzt. Er ist verunsichert durch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über die Dimensionen des Alls, durch die Biologie, die ihn mehr und mehr einordnet in ein unüberschaubares Entwicklungsgeschehen des Lebens, und durch die Psychologie, die immer stärker seine psychischen Abhängigkeiten und Bedingtheiten offenlegt. Dazu kommen übermächtige Entwertungstendenzen, die von einer Massengesellschaft ausgehen, deren Urgewalt sich immer mehr steigert. Nicht der Wert des Menschen, sondern das Diktat technischer Notwendigkeiten, die Macht des Geldes, die Abhängigkeit der Märkte, der Einfluss der neuen Medien und des Konsums bestimmen weithin den Lauf der Dinge. Der Einzelne erlebt sich geradezu ohnmächtig und unwichtig.
Wie diese Würde gewinnen?
Der Mensch wird ersetzbar und erlebt sich wegrationalisiert auf dem Arbeitsmarkt. Wen wundert, dass auf diesem Hintergrund so viel Minderwertigkeitsgefühl und geradezu proletarisches Lebensgefühl wächst. In der modernen Gesellschaft scheint der Mensch immer mehr nur partiell gefragt und geschätzt, sei es als Arbeitskraft, als Konsument, als Patient, als Mieter, Gemeindemitglied, Ehepartner – immer neu aufgeteilt nach Funktionen und überall nach jeweils anderen Wertmaßstäben bemessen. Woher gewinnen wir in dieser Situation unsere Ganzheit, unsere Würde, unseren wirklichen Wert? Der bekannte Religionsphilosoph Bernhard Welte hat in seinem äußerst behutsamen phänomenologischen Denken aufzuweisen versucht, dass die Würde des Menschen in unserer modernen Situation letztlich nur aus religiösen Wurzeln gesichert werden kann (Bernhard Welte, Die Würde des Menschen und die Religion, Frankfurt 1977).
Ein neues Selbstwertgefühl
Pater Joseph Kentenich hat über viele Jahre mit wachem Blick für die Entwertungstendenzen unserer Zeit und in seinem pädagogischen Charisma daran gearbeitet, aus dem Glauben die Kräfte zu mobilisieren für ein neues gesundes Selbstwertgefühl. Diese Bemühungen sind ganz verknüpft mit den großen Themen der Gotteskindschaft und Christusgliedschaft. Diese sind ihrerseits wiederum ganz integriert in das, was in Schönstatt gerne als „Herzensheiligtum“ bezeichnet wird. Ohne dieses Wort ist die gemeinte Wirklichkeit und ihre Auswirkung auf das Selbstwertgefühl des Christen im Credo der Werkzeugsmesse im Gebetbuch „Himmelwärts“ ausgesprochen:
„Wir sind so arm und schwach und bloß;
du machst erhaben uns und groß
zu des verklärten Herren Glied,
der als das Haupt zu dir uns zieht.
Du, Gott, erhöhest unser Sein,
ziehst in die Seel‘ als Tempel ein,
wo mit dem Sohn und Heiligen Geist
du dich als Dauergast erweist.“
Hier ist auf engstem Raum zusammengedrängt, in unverdächtige Verse gebannt, was inmitten der menschenunwürdigen Situation des Konzentrationslagers Dachau aus den Quellen des Glaubens Würde schenkt und überleben lässt. Ich stelle mir vor, dass diese Zeilen im KZ geschrieben sind. Nicht spielerische Freude an wohlklingenden Worten fügt solche Verse zusammen. Da betet einer inmitten von Entmenschlichung und Verletzung der Menschenwürde, um sich bewusst zu bleiben, was er in den Augen Gottes ist. Ihm ist und bleibt er heilig.
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