Immer auf Nummer sicher gehen?
Sicherheit aus psychologischer Sicht
von Klaus Glas
Vor etwa 20 Jahren tauchte im Internet ein Text auf, der sich an vor 1978 Geborene wandte. Der unbekannte Verfasser schrieb: „Wenn du als Kind in den 1950er, -60er oder -70er Jahren lebtest, ist es zurückblickend kaum zu glauben, dass wir so lange überleben konnten! Als Kinder saßen wir in Autos ohne Sicherheitsgurte und ohne Airbags. Unsere Bettchen waren angemalt in strahlenden Farben voller Blei und Cadmium. Die Fläschchen aus der Apotheke konnten wir ohne Schwierigkeiten öffnen, genauso wie die Flasche mit Bleichmittel. Türen und Schränke waren eine ständige Bedrohung für unsere Fingerchen. Auf dem Fahrrad trugen wir nie einen Helm. Wir tranken Wasser aus Wasserhähnen und nicht aus Flaschen. Wir bauten Wagen aus Seifenkisten und entdeckten während der ersten Fahrt den Hang hinunter, dass wir die Bremsen vergessen hatten. Damit kamen wir nach einigen Unfällen klar. Wir verließen morgens das Haus zum Spielen. Wir blieben den ganzen Tag weg und mussten erst zu Hause sein, wenn die Straßenlaternen angingen. Niemand wusste, wo wir waren, und wir hatten nicht mal ein Handy dabei…“
Kult um die Sicherheit der Kinder
Manche Kinder der Generation X (1965 bis 1980) waren „Schlüssel-Kinder“; sie hatten einen Haustürschlüssel und kamen nach der Schule in eine leere Wohnung, weil beide Eltern auf der Arbeit waren. Laut einer Studie aus Großbritannien (2021) dürfen Kinder heute erst mit elf Jahren unbeaufsichtigt zum Spielen ins Freie. Deren Eltern waren dagegen bereits mit neun Jahren allein oder mit Kameraden auf der Straße oder dem Spielplatz. Helen Dodd, Professorin für Kinderpsychologie, betont, bereits vor der Coronapandemie hätten sich Kinder in einer Art „Dauer-Lockdown“ befunden. Kinder und Jugendliche hätten heutzutage zu wenig Gelegenheiten, sich mit der realen Welt auseinanderzusetzen. Das führe dazu, dass sie später den Herausforderungen des Lebens oft hilflos gegenüber stünden.
Kinder von heute brauchen – wie die Babyboomer (1946 bis 1964) und die Generation X (* 1965 bis 1980) – Gelegenheiten, überschaubare Risiken einzugehen. Nervenkitzel verspürt man etwa beim Klettern auf Spielplatzgeräten, beim Schaukeln und Rutschen, beim Hantieren mit Hammer und Bohrer sowie beim Überqueren eines Baches auf rutschigen Steinen. Der Spielforscherin Mariana Brussoni zufolge sollten Spielplätze so sicher wie nötig, aber nicht so sicher wie möglich sein. Bei einem guten Spielplatz bestehe das Risiko, sich blaue Flecken, aber keine Narben zu holen. Kinder lernen buchstäblich gehen von Fall zu Fall. Und sie werden zu resilienten Rackern, wenn sie steile Rutschen ausprobieren. Um sich körperlich gesund und sozial kompetent zu entwickeln, brauchen Jungen und Mädchen Challenges, die sie alleine oder zusammen bewältigen können. Verbindende Aktivitäten (Singen, Wandern, Spielen) schaffen die Voraussetzung für das Miteinander-Wachsen.
Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt beklagt, in den vergangenen drei Jahrzehnten habe sich zunehmend eine „Helikopter-Erziehung“ breit gemacht. Diese habe zu einer epidemieartigen Ausbreitung von Angststörungen, mangelndem Selbstvertrauen und Depressionen geführt. Bevor ein Junge ein Smartphone bedienen kann, sollte er eigentlich eine Schleuder gebastelt haben, mit der er Papierkugeln schießen kann, oder? Leider ist das Gegenteil der Fall. Während Eltern ihrem Kind nicht erlauben, allein durch einen Park zu laufen, schauen sie weg, wenn ihr Kind stundenlang am Smartphone abhängt. Im Internet lauern jedoch ungleich höhere Gefahren. So geben vier von zehn Kindern und Jugendlichen im Alter von elf bis 17 Jahren an, schon einmal einen Porno gesehen zu haben. Schlimmer noch: Immer öfter stellen sie selbst pornografisches Material her und verschicken es an andere. Dieses Phänomen nennt man Sexting (Landesanstalt für Medien NRW, 11.09.2024). „Ein smartphonebasiertes Leben zieht Menschen im Großen und Ganzen nach unten. Es verändert die Art, wie wir denken, fühlen, urteilen und mit anderen in Beziehung treten“, sagt Jonathan Haidt (Buch „Generation Angst“, S. 270).
Die australische Regierung sorgt sich um das Wohlergehen der Heranwachsenden. Im November 2024 wurde ein Gesetz verabschiedet, dass Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren den Zugang zu Sozialen Medien verbietet. Die übermäßige Nutzung von Medien, wie TikTok, Instagram oder Snapchat berge Risiken für die körperliche und seelische Gesundheit. Mädchen seien insbesondere durch schädliche Darstellungen des Körpers gefährdet, Jungen durch frauenfeindliche Inhalte.
Über die Früherkennung-Illusion
Die häufigste Krebserkrankung bei Frauen ist Brustkrebs. Hierzulande nimmt etwa jede zweite anspruchsberechtigte Frau am Mammographie-Screening teil. Dabei wird die Brust zwischen zwei Plexiglasplatten gelegt und zusammengedrückt. Das ist für die Betroffenen unangenehm, manchmal auch schmerzhaft. Regelmäßige Kontrollen können Frauen angeblich davor bewahren, an Brustkrebs zu versterben. Aber stimmt das auch?
Im Sommer 2023 wurde eine Meta-Studie veröffentlicht. Die Daten von mehr als zwei Millionen Personen wurden analysiert. Die Forscher fanden keinen Hinweis, dass die Teilnahme am Mammographie-Screening das Leben einer Frau verlängern kann. Das gilt analog für Männer ab 45 Jahren, die regelmäßig ein Prostata-Screening mit einem PSA-Test durchführen lassen. „Krebsscreening ist leider auch zu einem Milliarden-Geschäft mit der Angst vor dieser schrecklichen Erkrankung geworden. Die meisten Medien schweigen sich jedoch über die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus oder nehmen sie gar nicht zur Kenntnis“, kritisiert Gerd Gigerenzer. Der Psychologe und Risiko-Forscher weist darauf hin, dass zwischen Früherkennung und Vorsorge unterschieden werden müsse: Vorsorge, wie mehr körperliche Bewegung und weniger Alkohol, verringert die Wahrscheinlichkeit, Krebs zu kriegen. Krebsfrüherkennung bringt dagegen nichts. Lediglich die sogenannte kleine Darmspiegelung (Sigmoidoskopie) scheint das Leben um etwa drei Monate zu verlängern.
Eine von Gigerenzer und seinen Mitarbeitern entwickelte Faktenbox zeigt: Von 1000 Frauen, die sich nicht untersuchen ließen, starben fünf innerhalb von zehn Jahren an Brustkrebs. Von denjenigen, die gewissenhaft alle zwei Jahre zur Mammographie gingen, starben im gleichen Zeitraum vier Frauen. Wenn man den Nutzen der Mammographie wissenschaftlich ausdrückt, klingt das nüchtern so: 1000 Frauen müssten zehn Jahre lang am Mammographie-Screening teilnehmen, damit eine Frau weniger an Brustkrebs stirbt.
Was oft verschwiegen wird, sind die Risiken und Nebenwirkungen eines Krebs-Screenings. Der bekannteste Schaden dürfte in der Überdiagnose liegen. Jeder Test, jede Untersuchung liefert auch falsch-positive Ergebnisse. Von 1000 an der Mammographie teilnehmenden Frauen bekommen 100 vom Arzt ein positives Ergebnis mitgeteilt: Sie erhalten die Angst machende Nachricht, sie hätten Brustkrebs, obwohl das gar nicht zutrifft! Bei fünf von 1000 Frauen wird in der Folge die Brustdrüse – teilweise oder vollständig – entfernt, unnötigerweise. Das muss nicht so sein. Künftig könnte jede und jeder mit Hilfe der vom „Harding-Zentrum für Risikokompetenz“ erstellten Faktenboxen selber entscheiden, ob er oder sie an einem Krebs-Screening teilnehmen will oder nicht (https://www.hardingcenter.de/de/transfer-und-nutzen/faktenboxen).
Suche nach Sicherheit ist angeboren
Der Schweizer Psychologe August Flammer schreibt: „Der Mensch, der nach Kontrolle strebt, strebt nach Handlungsspielraum, nach Reserven, um gegebenenfalls wichtige Ziele erreichen zu können.“ In einer komplexer werdenden Welt mit ihren Irrungen und Wirrungen ist das angeborene Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle immer aktiviert. Manches kann man ändern und beeinflussen, vieles gilt es auszuhalten und zu akzeptieren. Es bedarf des Geistes der Unterscheidung. Wir könnten täglich beten: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ (Reinhold Niebuhr)
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