Individualisierung
Von der Fremd- zur Selbstbestimmung
von Klaus Glas
Hannah steht vor einem großen Spiegel. Im Vorbeigehen tupft ihr die Mutter mit dem Zeigefinger unbemerkt einen roten Punkt auf die linke Wange. Die Anderthalbjährige schaut verdutzt. Dann führt sie ihre linke Hand zum Gesicht, um den Farbfleck abzuwischen. Wenige Wochen zuvor streckte sie ihre Hand noch in Richtung Spiegel; erfolglos versuchte sie, den roten Fleck auf ihrem Spiegelbild zu ertasten. Jetzt weiß sie: das bewegte Bild dort im Spiegel, das bin „Ich“. Bereits ein halbes Jahr später kann sie aus einem Foto-Set, das gleichaltrige Mädchen und Jungen zeigt, ihr Konterfei zielsicher herausfischen. Hannah hat einen wichtigen Entwicklungssprung gemacht. Sie hat ein Empfinden von Selbst-Bewusstheit entwickelt.
Die Entwicklung des Selbst
Eltern fragen sich, wann und wie sich das Selbst-Bewusstsein ihrer Kinder entwickelt: „Weiß Hannah (2 Jahre), dass sie eine einmalige Persönlichkeit ist?“ „Weiß Noah (4 Jahre, dass er ein Junge ist und dass er später keine Mama werden kann?“ Weil man Kleinkinder nicht direkt nach Gedanken und Gefühlen fragen kann, liefern Verhaltensbeobachtungen Hinweise auf Entwicklungsfortschritte. Der britische Naturforscher Charles Darwin vertrat 1877 die Auffassung, das Bewusstsein des Selbst starte, wenn man erstmals sein Spiegelbild erkennen könne. Der Rouge-Test erfasst das Erkennen des eigenen Selbst im Spiegel und liefert einen Beleg für ein rudimentäres Selbstkonzept. Zwischen 15 und 18 Monaten fangen die kleinen Leute an, ihre eigene Nase anzufassen, wenn sie den roten Fleck im Spiegel sehen. Kinder in diesem Alter haben offenbar ein Schema davon, wie ihr Gesicht aussehen sollte und fragen sich: „Was hat der rote Fleck in meinem Gesicht zu suchen?“ …
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