Josef Engling – ein Anti-Held?
von Joachim Schmiedl
Nein, ein Held im klassischen Wortsinn war Josef Engling nicht. Der Junge aus dem ostpreußischen Prossitten war von Geburt an leicht behindert. Mit dem Aussprechen einiger Konsonanten tat er sich schwer. Das sollte im rheinischen Vallendar im Studienheim Schönstatt manchen Spott auf ihn herabziehen. Auf den wenigen von ihm erhaltenen Fotos sieht man seine gebeugte Haltung. Seine Klassenkameraden schlugen ihm deshalb manchmal auf den Rücken, damit er seinen Oberkörper wieder straffe. „Kriegsanleihen zeichnen“, nannten sie das.
In einer unruhigen Zeit
Josef Engling wurde 1898 geboren. Es war die Zeit, in der das Deutsche Kaiserreich politisch und wirtschaftlich auf dem Höhepunkt seiner Macht stand. Kurz vorher hatte es Großbritannien an ökonomischer Leistungsfähigkeit überholt. „Made in Germany“, einst zur Denunzierung deutscher Produkte als mangelhaft eingeführt, wurde zum Qualitätssiegel. Dass das Kaiserreich die Herrschaft über die Meere anstrebte, zeigte nicht nur die Einführung der Steuer auf Sekt zur Finanzierung der Kriegsflotte, sondern wurde auch anschaulich in den Matrosenanzügen, die zur Grundausstattung heranwachsender Bürgerkinder gehörten. Deutschland hatte sich ja bereits einen „Platz an der Sonne“ gesichert durch den Erwerb von Kolonien in der Südsee, in China und vor allem in Afrika. „Helden“ waren gefragt – solche, die in den Weiten Afrikas und Asiens Neuland für Europäer entdeckten; solche, die mutig in militärische Kämpfe zogen und ihren Heldenmut bewiesen; solche, die für ihr Vaterland reihenweise die Nobelpreise absahnten.
Es sollte aber völlig anders kommen. Die Größe seines Vaterlandes faszinierte auch den jungen Josef Engling. Auch er wollte in die Kolonien. Dass die Pallottiner, eine erst seit 1892 in Deutschland ansässige italienische Missionsgesellschaft, die kirchliche Verantwortung für die Mission in Kamerun übertragen bekommen hatte, eröffnete ihm den Weg zum Missionar. Groß dachte er von dieser Berufung. Die ganze Welt stehe ihm offen, sollte er später seinem Tagebuch anvertrauen.
Eine Berufung
Doch nun beginnt eine Geschichte, die völlig anders verlief als geplant. Vier Jahre verbrachte Josef Engling im pallottinischen Studienheim in Schönstatt. In den ersten beiden Jahren arbeitete er sich durch stete Leistungen zu einem der stärksten Schüler seiner Klasse empor. Er genoss das Vertrauen seiner Mitschüler, wenngleich er nie der „Strahlemann“ war. Josef musste sich sehr anstrengen, um seine körperlichen Beeinträchtigungen zu verbessern und auszugleichen.
In diesen Jahren baute sich ein Vertrauensverhältnis zu Pater Joseph Kentenich auf, der zeitgleich mit der Ankunft Englings zum Spiritual des Studienheims ernannt worden war. Mit ihm besprach er seine Fragen und Sorgen, ihm erzählte er von seinen Schwierigkeiten, seinen Niederlagen und Siegen in der harten Schule der Persönlichkeitsformung.
Durch Pater Kentenich kam Josef Engling auch in die Marianische Kongregation, die am 19. April 1914 im Studienheim gegründet worden war. Schnell stieg er zu einer der führenden Personen in der Kongregation auf. Doch seine Fähigkeiten zeigten sich nicht im öffentlichen Deklamieren von Gedichten bei Festveranstaltungen, sondern in der „zielstrebigen Kleinarbeit“, im Gespräch mit Einzelnen und in der besonderen Sorge für solche, die am Rand standen. „Allen alles werden“ – unter dieses paulinische Motto stellte er sein Leben und Wirken. So wollte er ein besonderer Diener Marias werden. Ihr hatte er sich in der Marienweihe anvertraut, zu ihr fasste er in vielen Besuchen in dem ihr geweihten Kapellchen, dem heutigen Urheiligtum der Schönstatt-Bewegung, Vertrauen. Josef Engling – kein strahlender Held, sondern einer, der heldenhaft um seinen Weg in das Leben ringt.
Einsatz bei Militär
Die größte Bewährung für Engling stellte aber das Militär dar. Vom November 1916 bis Oktober 1918 war Josef in das große Gemetzel involviert, das die europäischen Mächte seit dem August 1914 gegeneinander angezettelt hatten. Manche seiner Klassenkameraden waren mit Begeisterung Soldaten geworden. Es gibt Fotos, auf denen sie sich stolz in ihrer Uniform zeigen. Josef war kein Vorzeigesoldat, im Gegenteil. Seine Schießleistungen in der Rekrutenschule Hagenau wurden kommentiert, hier beschieße das „Aas“ wieder die Vogesen. Nachexerzieren war die Strafe dafür. Nein, ein Held war er wirklich nicht. Beförderungen erfuhr er in den zwei Jahren ebenfalls nicht. Da wurden ihm andere vorgezogen.
Doch als Kaiser Wilhelm II. im Angesicht der militärischen Niederlage sich die Gunst seiner Soldaten sichern wollte und reihenweise Eiserne Kreuze verteilen ließ, war Josef Engling trotzdem dabei. Nicht „Tapferkeit vor dem Feind“ war die Begründung, sondern sein selbstloser Einsatz für seine Kameraden beim lebensgefährlichen Essenholen in der „Hölle von Flandern“. Helden können auch ganz anders aussehen.
Vom „Held“ zum Heiligen?
In der Nachwirkung wurde freilich zunächst doch der „Held“ Engling betont. Eine der ersten Lebensbeschreibungen aus der Feder von P. Alexander Menningen trägt den Titel „Held im Werktag“ (1937). Auch wenn die Neuauflage aus dem Jahr 1977 den geänderten Titel trägt „Maria ganz zu eigen“, sagt der ursprüngliche Titel doch mehr über den Autor und die Entstehungszeit aus als über Josef Engling. Mehrere Generationen von Schönstättern, die zu seiner Todesstelle nach Cambrai fuhren, wurden dort mit einem Engling-Bild konfrontiert, das die heroischen Aspekte seines Lebens, die sich auch in den Fehlern und Schwächen zeigten, betonte.
Diese Akzentuierung wird von der katholischen Kirche unterstützt. Für den positiven Ausgang eines Seligsprechungsprozesses ist erforderlich, dass der Nachweis erbracht wird, die Kandidatin oder der Kandidat habe in heroischem Maße nach den Tugenden gelebt. Gemeint sind die drei göttlichen Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe sowie die vier Kardinaltugenden der Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Tapferkeit und Frömmigkeit. Im Falle Josef Englings haben in den 1950er Jahren mehr als 50 Zeugen darüber Auskunft gegeben. Nachdem der Prozess längere Zeit nicht weitergegangen war, wurde er nach dem Jahr 2000 wieder aufgenommen.
Ein Soldat als Heiliger?
Nun erhob sich allerdings ein Problem: Kann ein Soldat überhaupt Heiliger werden? Widerspricht nicht das alte Heldenbild dem von der Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil favorisierten Friedensideal? Lange Untersuchungen an der vatikanischen Heiligsprechungskongregation wurden durchgeführt mit dem Ergebnis: Es kommt auf den Einzelfall an. Und als ein solcher Einzelfall sollte Josef Engling untersucht werden.
Das geschah in einer über 600 Seiten dicken „Positio“, also einer Stellungnahme zu seinem Leben, seinen Tugenden und der daraus entstandenen Verehrung seiner Person. Dass die Positio handwerklich gut gearbeitet ist, wurde von den Historikern bereits bestätigt. Im Laufe des Jahres 2019 erwarten wir ein Urteil der Theologen. Dann wäre Josef Engling mit dem „heroischen Tugendgrad“ ausgestattet – ein verehrungswürdiger Anti-Held mit Heldenstatus.
Foto: © Englingfeuer · Quelle: Privat