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Kirche – wie eine Familie

Ein altes Paar tanzt, ein Ehepaar mit zwei Kindern stehen dabei und schauen fröhlich zu.

Kirche – wie eine Familie

Gemeinsam unter einem Dach

von Hubertus Brantzen

Die 19. Shell-Studie aus dem Jahr 2024 bestätigt ein Ergebnis, das seit 30 Jahren, in denen die Einstellungen der Jugendlichen in Deutschland gemessen wurden, gleich blieb: Dreh- und Angelpunkt für das Wohlbefinden der Jugendlichen sind die Beziehungen zu Freunden und zu der eigenen Familie. Als wichtigste Lebensziele mit Umfragewerten deutlich über 90 Prozent geben die jungen Menschen an: „Gute Freunde haben, die einen anerkennen und akzeptieren“, ,,Einen Partner haben, dem man vertrauen kann“ und „Ein gutes Familienleben führen“. Wenn auch die Krisenherde wie die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten sowie die Klimakrise Unsicherheit und Verlustängste, sogar Einsamkeitsgefühle oder Depressionen schüren, so sind es die Beziehungsnetze im nahen Lebensumfeld und die Sehnsucht nach Geborgenheit, die Stabilität verleihen.  

Familie als überzeitlicher Sehnsuchtsort

Wenn sich auch die Vorstellungen wandeln, was Familie eigentlich und praktisch bedeutet, so ist Familie ein menschliches Gut, das unabhängig von Kulturen, Religionen und gesellschaftlichen Umständen die Zeiten überdauert. Familie gehört zur „conditio humana“, zu den Wesensmerkmalen des Menschen und der menschlichen Vergemeinschaftung. Familie ist ein Sehnsuchtsort, der allen Menschen gemeinsam ist. 

Glückliche Erfahrungen in der eigenen Familie und gute Erinnerungen an die Herkunftsfamilie lässt darauf hoffen, selbst eine Familie gründen zu können, sich auf einen anderen Menschen ganz einzulassen und mit ihm Kinder in die Welt zu setzen. Menschen, die diese beglückenden Erfahrungen nicht machen durften, können, gleichsam auf der Negativfolie eigener Erfahrungen, trotzdem positive Zukunftsbilder entwickeln. Aggressives und renitentes Verhalten aufgrund familiärer Mangelerfahrungen ist weniger selbstverschuldete Boshaftigkeit, sondern ein Aufbäumen gegen das eigene, unglückliche Leben und ein Hilfeschrei an die Umwelt.
Wenn also Familie, gleich in welcher Form, so sehr zum Menschsein gehört, dann können relevante Institutionen nicht ohne Familie Zukunft planen. Das gilt für staatliche Institutionen genauso wie für Kirchen und andere gesellschaftliche Gestaltungskräfte. 

Familie in der Kirche

Die Kirche hat das schon immer so gesehen und darum besonderen Wert darauf gelegt, die Familie in ihr eigenes Leben einzubeziehen. Früheste Zeugnisse aus der Kirchengeschichte beschreiben, dass Brautleute sich für das gemeinsame Leben segnen lassen. Seit tausend Jahren spricht die katholische Kirche zunächst vom „sakramentalen Charakter der Ehe“ und dann von „Ehe-Sakrament“, das die Grundlage für die Familie bildet. 

Sakramente sind Zeichen und Rituale, durch die die Kirche sich selbst verwirklicht. Wenn die Kirche also die Ehe als Sakrament versteht, bedeutet das: In der Liebe zwischen Frau und Mann, aus der Familie hervorgeht, verwirklicht sie sich selbst. Wie die Kirche sich in der großen Gemeinschaft einer Gemeinde, eines Bistums und der Weltkirche verwirklicht, so verwirklicht sie sich auch in der Gemeinschaft von Ehe und Familie im Kleinen. Darum hat das Zweite Vatikanische Konzil eine Formulierung neu hervorgeholt, die lange Zeit verschüttet war: Familie ist eine ecclesiola – eine Kirche im Kleinen.

Kirche selbst als „Familie“?

Wenn man auch in früherer Zeit etwa von einer „Pfarr-Familie“ sprach, den Pfarrer als „Vater seiner Gemeinde“, den Bischof als „Vater seines Bistums“ und den Papst als „Heiligen Vater“ der Gesamtkirche bezeichnete, so wurde diese Sprachregelung doch eher in analoger Weise verstanden. Kirche war, ganz gemäß einem patriarchalischen Gesellschaftsmodell, hierarchisch geordnet. Selbst in den Konzilstexten kommt der Familienbegriff nur im Zusammenhang mit den Aufgaben der Amtskirche gegenüber den Gliedern der Kirche vor (z.B. Lumen gentium, Nr. 32). Die vorherrschende Mentalität war eher: „Fest soll mein Taufbund immer stehen. Ich will die Kirche hören.“  

Die gesellschaftlichen und kirchlichen Erschütterungen der vergangenen 50 Jahre, besonders aber der jüngsten Zeit, haben die Erfahrung hinterlassen, die nicht mehr weggeschoben werden kann: Wir brauchen ein neues Bild von Kirche, ein Bild, das zwar in der Vergangenheit und Tradition verankert, aber mehr am heutigen Menschen orientiert und zukunftsfähig ist.

Revolution in der Kirche

Pater Josef Kentenich formulierte bereits kurz nach dem Konzil im Jahr 1966 die Zukunftsaussichten der Kirche drastisch:
„Aber jetzt, heute, die neueste Zeit: Die bedeutet einen derartigen Einschnitt in die ganze Weltgeschichte, dass man sich das kaum vorstellen kann. Wenn bisher eine Zeit organisch sich aus der anderen entwickelt hatte, dann haben wir jetzt eine Totalrevolution.“ (Oktoberwoche 1966)

„Wir stehen im Raume der Kirche erst am Anfang dieser universellen Revolution. Wir haben also noch allerlei zu erwarten. (…) Die stark traditionelle Einstellung hatte natürlich ungemein viele Vorteile, aber auch nicht geringe Nachteile. Wir dürfen uns auch sagen und sagen lassen: Wenn wir diese totale Revolution auch im Raume der Kirche nicht nur zurückführen auf die Revolution in der Welt, dann steht ein neuartiges Bild vor uns: Wir müssen dann wohl mit Wehmut gestehen: Was wir seither lebendiges, praktisches Christentum nannten, das muss doch zum großen Teil bloß angeklebt gewesen sein. Sonst könnte die Revolution bis in letzte Wurzeln wohl kaum möglich gewesen sein.“ (Priesterexerzitien 1966)

Diese „Revolution“ wirkt sich auf das Selbstbild und Selbstverständnis der Kirche aus. Nach Kentenich muss die Kirche in Zukunft auf Stützen, etwa des Staates und der Gesetzgebung, verzichten. Ihr steht eine Enteuropäisierung bevor (nicht mehr Europa gibt den Ton an), eine Entmaterialisierung (die materiellen Grundlagen werden geringer), Entpolitisierung (keine Unterstützung mehr etwa durch eine Partei), Entterritorialisierung (sie verliert an Raum).

Manche jammern über diese Entwicklung, die Pater Kentenich in den 1960er Jahren in dieser Weise formulierte und die wir heute in einem Ausmaß erleben, das wir so nicht erwartet haben. Kentenich sieht dagegen ein neues Bild von Kirche, das aus ihren eigenen Urquellen aufsteigt:

„Eine brüderliche [geschwisterliche] Kirche: Alle Eigenschaften sind das totale Gegenstück zu dem, wie die Kirche sich anno dazumal aufgefasst hat. Eine brüderliche Kirche. Diese Kirche will geeint sein in einer überaus zarten, tiefen, innigen Brüderlichkeit. Eine Brüderlichkeit, und zwar in einer Form geeint, die auch gleichzeitig eine hierarchische Regierung, eine hierarchische Führung kennt.“(Vortrag 8.12.1965)

„Mit ihrer lokalen Entterritorialisierung muss – um ein Wortspiel zu gebrauchen – die personale Territorialisierung gleichen Schritt halten. Mehr noch! (…) Die unaufhaltsam fortschreitende lokale Entterritorialisierung des Christentums verlangt eine stärkere Personalisierung und Familiarisierung. Das heißt: Was Persönlichkeit und Familie bisher durch Verwurzelung in katholischen Mutterboden eines Landes oder einer Gegend an Schutz und Sicherung erhalten hat, will und muss nun durch sorgfältige individuelle und unmittelbare Persönlichkeits- und Familienbildung und Erziehung erstrebt und erreicht werden.“ (Eine Studie 1952/53)

„Und wie das neue Kirchenbild letzten Endes aussieht? Lassen Sie mich das immer wiederholen: Das ist eine Kirche, die vom Heiligen Geist geführt wird; das ist eine Kirche, die mehr und mehr den Akzent verlegt weg von allem menschlichen Wollen, von menschlichen Schutzmitteln, von Schutzmitteln durch den Staat, von Schutzmitteln durch Gesetz und Bräuche, eine Kirche, die von da aus den Akzent verlagert hinein in die Wirksamkeit des lebendigen Gottes, hinein in die Wirksamkeit des Heiligen Geistes.“ (Standesleitertagung 1968)

Synodale Kirche als Familie

Liest man solche 60 oder 70 Jahre alten Texte, kann man kaum umhin, an das zu denken, was gegenwärtig in den synodalen Zusammenkünften in Rom geschieht und besprochen wird. Was Pater Kentenich beschreibt, würde man heute als „synodalen Umgang“ in der Kirche bezeichnen, die zwar hierarchisch geordnet, aber vor allem geschwisterlich geeint ist und in der alle, vom Geist Gottes geleitet, entsprechend miteinander umgehen. Wesentliches Merkmal dabei sind: offen aufeinander zu hören, dem Geist Gottes zuzutrauen, dass er durch alle spricht, zukunftsorientiert und gemeinsam Wege in die Zukunft zu suchen und dann gemeinsam anzupacken.

Das sind zugleich Merkmale, die eine gute, funktionierende und christliche Familie auszeichnen. Ein Handbuch für den Umgang in der Kirche und eines für den Umgang in der Familie, zwischen Eheleuten und zwischen Eltern und Kindern dürften große Schnittmengen zeigen. 

(Einzelausgabe kaufen für 3,80 € oder abonnieren)

 

Hubertus Brantzen

Prof. Dr., Pastoraltheologe, Mainz.

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