„Lasst euch mit Gott versöhnen“
Zum Sakrament der Beichte
von Manfred Gerwing
Vor fast 500 Jahren, genauer am Palmsonntag des Jahres 1524, predigte Martin Luther über die Vorteile der Beichte. Was er damals ausführte, trifft heute noch zu: Das Wort Gottes, das aller Welt zu verkünden ist, kommt in der Beichte allein auf mich zu! Es spricht mich persönlich an, mich in meiner Existenz, auch und gerade angesichts meiner Schwächen, meiner Versäumnisse und Sünden. Das Wort Gottes wird, so führt der Reformator richtig aus, in der Beichte „alleine auf deine Person gestellt“.
In der Predigt sei es anders. Hier „fliegt es in der Gemeinde dahin, und wiewohl es dich auch trifft, bist du seiner doch nicht so gewiss. Aber hier“, in der Beichte, so betont er, „kann es niemand treffen, denn dich allein. Solltest du aber nicht herzlich froh werden, wenn du einen Ort wüsstest, da Gott mit dir selber reden wollte?“ (M. Luther, WA 15, 486,30–487,11).
Soziologisch überlebt
Das war vor 499 Jahren. Seitdem hat sich bei den Protestanten, aber auch in der katholischen Kirche viel verändert: Das Sakrament der Beichte wird weithin nicht mehr als allgemein gültig und verpflichtend angesehen. In vielen Kirchen (nicht allen; es gibt rühmliche Ausnahmen) stehen die Beichtstühle leer. Sie werden oft nur noch als Abstellkammern für Putzmittel und andere Utensilien benutzt. Soziologisch gesehen hat die Praxis der Ohrenbeichte sich längst als „überlebt“ erwiesen, als absolutes Auslaufmodell.
Die soziologische Beurteilung freilich sagt nichts über die dogmatische Gültigkeit der sakramentalen Buße aus. Sie muss aber kritisch bedacht werden. Das beichtspiegelkonforme Sündenbekenntnis, die selbstgenügsame Gebetsbuße (Genugtuung) und die verbale Absolution sind fragwürdig geworden. Dennoch suchen Gläubige nach dem aufrichtigen Schuldbekenntnis, nach Vergebung und Neubeginn. Die Erneuerung der sakramentalen Buße ist eine bleibende Aufgabe der Kirche. Worauf kommt es an? Was gehört zum Wesentlichen?
Zunächst: Das Sakrament der Beichte hängt nicht an der äußeren, sich im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder verändernden Form der Bußpraxis. Es hängt am sich immer gleichbleibenden und ewig gültigen Wort Gottes.
Gottes Liebe ist größer als unser Herz
Adressat des Wortes Gottes sind alle Menschen aller Zeiten und Zonen. Es ist das Wort, das in Jesus Mensch geworden ist und das uns mit seinem Heiligen Geist erfüllt. Es ist das Wort, in dem Gott nicht etwas von sich, sondern sich selber ganz und gar dem Menschen mitteilt, ihn und die gesamte Schöpfung aufnehmend in jene Liebe, die er selbst ist (vgl. 1 Joh 4,8.16).
Das Wort Gottes, das der Welt im mitmenschlichen Wort verkündet wird, besagt: Gott nimmt in seiner Liebe zu uns weder Maß an uns noch überhaupt an etwas Geschaffenem, sondern einzig und allein an sich selbst, seinem Sohn. Deswegen ist seine Liebe zu uns „größer als unser Herz“ (1 Joh 3,20). Keine menschliche Schuld kommt gegen sie an. „Gott erneuert alles“ (ebenda).
Adressat der Sakramente, auch des Beichtsakraments, sind aber nicht – wie beim Wort Gottes – alle Menschen, sondern lediglich diejenigen, die das Wort Gottes glaubend angenommen haben. Sakramente sind Zeichen des angenommenen Wortes Gottes, das in der und durch die Kirche vom Einzelnen empfangen wird. Das Bußsakrament bezeugt, dass alle Sündenvergebung vom Wort Gottes kommt. Man redet sie sich nicht ein, sondern lässt sie sich – gerade im Blick auf die eigenen Sünden – auf den Kopf zusagen.
Sodann: In dem Wort Gottes, das in Jesus Christus Mensch wurde, teilt sich uns Gott selbst mit; und zwar als Liebe (vgl. 1 Joh 4,8). Wer an Jesus Christus glaubt, ist erfüllt vom Heiligen Geist. An Jesus als den Sohn Gottes glauben bedeutet, aufgrund seines Wortes sich und die Welt, die gesamte Wirklichkeit also, aufgenommen zu wissen in die Liebe zwischen Gott dem Vater und Gott dem Sohn, die der Heilige Geist selbst ist. „Niemand kann sagen: Jesus ist Herr, außer im Heiligen Geist“ (1 Kor 12,3).
Vergebung, die die ganze Welt umfasst
Wenn also in der Verkündigung des Wortes Gottes von einer Liebe Gottes zu uns gesprochen wird, die identisch ist mit jener Liebe, mit der Gott Vater immer schon seinem Sohn zugewandt ist, mit einer Liebe also, die größer nicht gedacht werden kann, dann ist diese Verkündigung zugleich die Verkündigung der Sündenvergebung. Das Wort Gottes richtet sich, wie gesagt, an alle Menschen zu allen Zeiten und Zonen. Es spricht von Gottes unendlicher Liebe und damit von der Vergebung der Sünden. Sie umfasst die ganze Welt. Gott hat in Christus „die Welt mit sich versöhnt“ (2 Kor 5,19).
Ferner gilt zu beachten: An der Welt ist diese unüberbietbare, versöhnende Liebe Gottes keineswegs abzulesen; weswegen sie nur durch das Wort Gottes selbst offenbar wird. Wer dieser Verkündigung des christlichen Glaubens glaubt, nimmt wahr, dass er nicht getrennt oder gar abgesondert von Gott lebt, sondern aufgenommen ist in die Liebe Gottes, dass er also teilhat an der Gemeinschaft mit Gott.
Die Liebe Gottes, die er im Glauben an Christus wahrnimmt, die er in sich aufnimmt und der er sich von Herzen erfreut, drängt ihn auch dazu, sie anderen Menschen weiterzugeben; denn „wovon das Herz voll ist, da quillt der Mund über“. Paulus spricht von der Liebe Christi, die ihn zum „Dienst der Versöhnung“ drängt, zum Dienst, anderen das „Wort der Versöhnung“ (2 Kor 5,18f.) weiterzugeben. Wenn dieser Dienst nicht geleistet wird, woher soll der Mensch dann um seine Versöhnung und Vergebung wissen? „Welchen ihr die Sünden nachlasst, denen sind sie nachgelassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten“ (Joh 20,23). Und wer sonst soll diese ekklesiale, schlüsselmächtige Versöhnung leisten, wenn nicht jene, die das Wort Gottes weitergeben?
Beichte eine Pflicht?
Und schließlich: Wenn allen, die das Wort Gottes glaubend annehmen, die Sünden vergeben werden, dann kann sich die Sündenvergebung nicht auf das Bußsakrament allein beschränken. In der Tat: Wie jedes andere Sakrament auch so weist auch dieses über sich hinaus. Sünden werden auch dort vergeben, wo mich das Wort Gottes anspricht, in Anspruch nimmt und zur vollkommenen Reue bewegt, wie es schon auf dem Konzil von Trient ausdrücklich heißt (DH 1677). Doch gerade die vollkommene Reue, die kraft der Liebe sündenvergebende Wirkung aufweist, verlangt nach dem höchstmöglichen Zeichen der geschenkten Sündenvergebung: nach dem Beichtsakrament selbst.
Mit anderen Worten: Das Bußsakrament verdeutlicht unüberbietbar: Die Sündenvergebung, die schon mit der mir zu Herzen gehenden Begegnung des Wortes Gottes erfolgt, gilt mir selbst, trifft mich mit meinen eigenen Sünden.
Muss ich also beichten? Das ist die falsche Frage. Die richtige stellte Martin Luther vor 499 Jahren: „Solltest du aber nicht herzlich froh werden, wenn du einen Ort wüsstest, da Gott mit dir selber reden wollte?“ Und worüber will er mit mir reden? Darüber, dass er durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt und den Heiligen Geist ausgegossen hat zur Vergebung der Sünden.
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