Leitung in der Kirche als geistliche Leitung neu verstehen
von Hans-Martin Samietz
Ist die Glaubwürdigkeitskrise der Kirchen auch eine Krise der Wahrheit? Wenn jetzt jemand argumentiert, dass die Wahrheit nicht in der Krise sein könne, weil sie von Ewigkeit her dieselbe sei, dann befinden wir uns mitten in der anstehenden Fragestellung: Wie kann Kirche sein, wenn der Prozess einer von innen her motivierten Zustimmung zur Wahrheit über das Argument einer abstrakt sich vorzustellenden Unabänderlichkeit gehen soll? Unvorstellbar!
Zum Bau einer Gemeinschaft der Gläubigen gehört der Resonanzraum tiefer und jeweils höchst individueller Empfindsamkeiten von Menschen, in deren Leben hinein Gott spricht.
Es geht nicht ohne Autorität
Autorität ist etwas, was dem Erlebten Bedeutung verleiht. In zerstreuter Beliebigkeit entsteht durch Autorität Mitte. Aus seelischem Chaos entsteht Persönlichkeit. Die höchste Autorität hat zweifelsohne die Wahrheit. Doch vor ihr muss man nicht ehrfurchtsvoll erstarren. Auf sie darf man vertrauen, dass sie sich am Ende zeigen wird. Ich muss sie nicht schauen wie eine Losung auf einem Plakat. Ich darf die Wahrheit langsam ertasten und am Ende auch mit einer Mutmaßung über sie leben. Sollte ich mich irren, wird sie sich melden und meinen Irrtum korrigieren, wenn ich ihr in meinem Herzen Raum dafür gebe.
Sie, die Wahrheit, sucht sich Werkzeuge, die ihr ein Gesicht geben, sogenannte „Autoritäten“, die von Menschen gehört und akzeptiert werden. Was bedeutet es aber, dass Kirche heute nicht mehr von den Menschen gehört wird? Eine Antwort auf diese Frage könnte lauten: Wir überhören kollektiv den Ruf der Wahrheit. Damit würde man sehr pessimistisch auf die spirituelle Kapazität heutiger Menschen schauen. Eine andere Antwort könnte in diese Richtung gehen: Die Wahrheit hat sich andere Werkzeuge gesucht und wir hören vergangenen Autoritäten zu. Ich möchte in diesem Artikel suchend in die zweite Richtung denken. …
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