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Lust auf Chaos

Lust auf Chaos

Warum die Pubertät eine Art zweite Geburt mit ähnlichen Risiken ist

von Hans-Martin Samietz

Die Pubertät sprengt das Selbstbild eines jungen Menschen. Das Gehirn des ehemaligen Kindes wird in den Jahren der Pubertät komplett umgebaut. Die höchste Anzahl an Synapsen besitzt ein Mensch in der späten Kindheit. Am Ende der Pubertät hat sich dann diese Anzahl stark verringert: „Nur was gebraucht wird, verfestigt sich“ (Neurowissenschaftler Peter Uhlhaas). Hinter die Schädeldecke können wir im Alltag nicht schauen, aber die Umbauprozesse der Pubertät können auch für das normale Auge nicht unsichtbar bleiben. Denn neben dem Gehirn verändern sich, wie jeder aus eigener Anschauung weiß, z. B. auch die Gliedmaßen. Sie wachsen in kurzer Zeit außerordentlich schnell. So kann es dazu kommen, dass ein junger Mensch eines Morgens beim Griff nach dem Glas mit dem Orangensaft auf dem Frühstückstisch von einem auf den anderen Tag ins Leere greift. Da, wo er gestern noch das Glas vermutete, steht es heute Morgen nicht mehr.

Die ganze Welt verändert sich

Es ist aber nicht nur der Körper, der sich da streckt. Mit ihm verändert sich für einen jungen Menschen in der Pubertät auch die Beziehung zu sich und der Welt. Wir gehen gerne auf hohe Berge und genießen von dort die Sicht auf einen im Gegensatz zu unseren Alltagsorten um viele Vielfache entfernteren Horizont. Selbst 20 Zentimeter Höhenwachstum können da bereits eine vergleichbar euphorisierende oder erschreckende Wirkung für den Betrachtenden haben. Dass die Phase der Pubertät das Selbst- und Weltverhältnis eines jungen Menschen auf den Kopf stell, bedeutet für die betroffene Person entweder Drama oder Komödie, in der Regel aber beides gleichzeitig.

Bei der Pubertät geht es um nicht mehr und nicht weniger als das Verlassen liebgewonnener Sicherheiten. Sie bedeutet ein Erdbeben für die bisher erarbeitete Gefühlswelt eines jungen Menschen. Die Pubertät ist eine Zeit der „Ich-Verwirrung“ (Josef Kentenich).

Geburtshelfer für geborene Menschen

Was also hilft einem jungen Menschen in der Pubertät die übriggebliebenen Fragmente seines zersprengten Selbstbildes mit den dazugekommenen Splittern seiner neuen körperlichen Möglichkeiten zu einem neuen Bild zusammenzusetzten? Wer und was ist in der Lage, eine sammelnde Mitte in diesem neu zu formenden Bild darzustellen?

Es braucht neue Bezugsgrößen! Das alte Welterklärungssystem, in der Regel die Eltern, funktioniert nicht mehr einwandfrei. Aber dieses Bezugssystem hat, wenn es im Leben bisher einigermaßen normal gelaufen ist, einen „doppelten Boden“ in das Gewissen des jungen Menschen eingezogen, so dass der junge Mensch die Unklarheiten, die jetzt in ihm und damit auch um ihn herum auftauchen, eher als bewältigbar einstuft als als nicht zu bewältigende Katastrophe. Ein erster Geburtshelfer für die Entstehung jenes neuen Selbstbildes nach der Kindheit ist die Lust darauf, kreativ sein zu können, etwas auszuprobieren, sich an eigenen Prioritäten und Konzepten zu erfreuen.

Nicht umsonst zeigt sich der Übergang von der Kindheit in das Jugendalter durch ein gewachsenes Verständnis von Witz und Ironie und die Lust daran, beides als Kommunikationsmittel genussvoll zu verwenden. Außerdem werden viele künstlerische oder sportliche Karrieren durch gesammeltes Interesse an einer „persönlichen Spezialdisziplin“ in der Pubertät grundgelegt. Auch hier ist oft die Lust am Ausprobieren der auslösende Faktor.

Hans-Martin Samietz

Schönstatt-Pater. Mitglied der basis-Redaktion.

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Beitragsfoto: © Dan Race · stock.adobe.com

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