Machen Städte wirklich krank?
Wie Stadtstress die seelische Gesundheit beeinflusst
von Klaus Glas
Vor einigen Jahren reisten meine Frau und ich im Urlaub nach New York. Auf dem Hinflug schwärmte ein vielreisender Landsmann von einem Jazzclub in Harlem; er flöge eigens zu einem Konzert in die Millionenmetropole. Unser Interesse war geweckt. Die Musikveranstaltung war zwar ausgebucht, aber wir wollten uns die Kultstätte einmal bei Tage anschauen und fuhren mit der U-Bahn in den legendären Stadtbezirk nördlich des Central Parks. Die urbane Umgebung wirkte an diesem Wolken verhangenen Tag düster. Als Weißer fühlte ich mich unvermittelt als Außenseiter und empfand Angst, weil ich nur schwarzen Menschen begegnete. Gehörte Harlem nicht zu jenen Gegenden, wo man sich besser nicht aufhalten sollte? Eine größere Gruppe Kindergartenkinder mit ihren Erzieherinnen kam über einen breiten Zebrastreifen auf unsere Straßenseite. Guckten die nicht allesamt feindselig zu uns rüber? Erstmals im Leben hatte ich Schiss vor Kindern. Richtig erleichtert war ich, als wir in das weite Grün des Central Parks eintauchten: Endlich in Sicherheit!
Gefühlte Sicherheit
Bis in die 1980er Jahre hinein war Harlem eine „No-go-Area“, eine Gegend, wo man als Tourist besser nicht hingehen sollte. Seitdem hat sich viel getan. Der ehemalige New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani folgte während seiner Amtszeit der Broken-Wings-Theorie. Diese geht von einem Zusammenhang zwischen dem Verfall eines Stadtbezirkes und der Kriminalität vor Ort aus. Ein einziges eingeworfenes Fenster in einem leer stehenden Gebäude – so die These – könne zu Vandalismus führen: Zerstörung erzeuge Zerstörung. Mit ihrer Nulltoleranz-Strategie konnten Giuliano und der örtliche Polizeichef tatsächlich einen deutlichen Rückgang der Kriminalität erreichen. Zwischenzeitlich ist New York zu einer der sichersten Metropolen in den USA avanciert; nach einer Analyse von 7000 Gemeinden liegt die „Stadt, die niemals schläft“ auf Rang drei.
Während der Coronapandemie ist die Zahl der Gewaltdelikte in New York allerdings gestiegen. Besonders in U-Bahn-Stationen haben Raubüberfälle und Schießereien zugenommen. Nach einem Bericht der Tagesschau (ARD, 17.06.2022) fühlen sich viele im „Big Apple“ nicht mehr sicher und belegen in Scharen Selbstverteidigungskurse. Neun von zehn Teilnehmenden sind Frauen. Sie sind von der Angst geplagt, überfallen und ausgeraubt oder vergewaltigt zu werden. Studien zufolge nimmt die Angst vor Kriminalität mit der Größe der Stadt linear zu. In vielen Kommunen wurde deshalb daran gearbeitet, den öffentlichen Raum sicherer zu machen. Es gibt Frauenparkplätze in Parkhäusern, Videoüberwachung in öffentlichen Verkehrsmitteln und in manchen Großstädten ein Nachttaxi für Frauen.
Einige Experten bezweifeln, ob diese Maßnahmen wirklich zu mehr Sicherheit führen. Sie geben aber zu, dass die subjektive Sicherheit erhöht werden kann. Die Angst vor einem Übergriff, die mich in Harlem beschlich, steht jedoch in keinem Zusammenhang mit der objektiv messbaren Gefahr, die man an der Kriminalitätsstatistik ablesen kann. Zumindest nicht in Deutschland. „Angst-Orte sind keine Tatorte, und Tatorte sind keine Angstorte“, betont die Psychologin Antje Flade, die viele Jahre am Institut Wohnen und Umwelt in Darmstadt geforscht hat.
…
Beitragsfoto: © terra.incognita · stock.adobe.com