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Menschenwürde

Menschenwürde | Ein Begriff mit vielen Fragezeichen

von Hubertus Brantzen

Im September dieses Jahres wurde ein 20-jähriger Student erschossen, der zur Aushilfe an einer Tankstelle in Idar-Oberstein arbeitete. Er hatte einen Kunden gebeten, eine Maske zu tragen. Der 49-jährige Deutsche war über diese Aufforderung so erbost und wollte „ein Zeichen setzen“. Er zog eine Pistole und tötete kurzerhand den Studenten. 

Deutschland war aufgeschreckt. Viele Kommentare erklärten den Vorfall. Es wurde von einer rhetorischen Radikalisierung der Corona-Gegner gesprochen. Fanatische Impfgegner fühlen sich in einem Dritten Weltkrieg. Querdenker und Influencer vermuten einen Staatsstreich der Regierung, die die Polizei für ihre Zwecke instrumentalisiere. So war der Tankwart in Idar-Oberstein in den Augen des Mörders nicht mehr wert und würdig weiterzuleben.

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Inzwischen ist eine merkwürdige und explosive Mischung aus verschiedenen Strömungen entstanden. Impf- und Corona-Gegner, Verschwörungstheoretiker, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und rechte Szene rüsten rhetorisch auf. Eine Spur der Angst vor allem, was fremd erscheint, wird breiter, eine Spur, die allerdings keineswegs neu ist.

Bei einem Besuch in Venedig stand auch ein Besuch des ältesten Ghettos der Welt auf dem Programm. Bereits um das Jahr 1000 lebten Juden in Venedig. Als im 15. Jahrhundert Juden, besonders aus Spanien und Portugal, vertrieben wurden, kamen viele zu den Glaubensbrüdern in die Lagunenstadt. Man siedelte sie in einem Stadtbezirk an, den man nachts abriegelte und der sich auf einem Gelände befand, auf dem sich zuvor eine Gießerei (venezianisch: „ghetto“) befunden hatte. Der Grund für diese Abschottung war die Angst der Venezianer vor Überfremdung. Zu solchen „Ghetto“-Bildungen kam es in der Folgezeit in ganz Europa. 

Deutschland hat seine ganz eigene Geschichte mit der Isolierung von Fremden und Juden im Besonderen. Genau diese Geschichte war einer der Gründe, warum die Gründungsväter und -mütter der Bundesrepublik Deutschland 1949 ins Grundgesetz als ersten Artikel schrieben:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Die Würde der Menschen ist unantastbar. Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden (Art. 3). Der Staat selbst darf die Menschenwürde nicht verletzten. Keinem darf Gewalt angetan werden, weder Gesunden noch Kranken noch Behinderten. Keiner darf gefoltert oder getötet werden. Die Todesstrafe ist verboten. Selbst Menschen, die schwerste Verbrechen begangen haben, besitzen das Recht, dass nach 15 Jahren Haft überprüft wird, ob sie das Gefängnis wieder verlassen können.

Unterscheidung von Wert und Würde

In diesem Zusammenhang verweist man gerne auf die Unterscheidung von Wert und Würde, wie sie der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1734-1804) traf. Dinge wie etwa ein Paar Schuhe sind für uns wertvoll und haben einen Wert, wenn sie passen und solange wir darin gut laufen können. Sind sie kaputt, verlieren sie für uns ihren Wert, und wir werfen sie weg.

Menschen behalten dagegen immer ihren Wert, auch diejenigen, die krank sind oder nicht arbeiten können. Darum unterscheidet Kant, dass alles einen Wert haben kann, der Mensch aber Würde besitzt.

Daraus ergibt sich der Anspruch jedes Menschen, von anderen geachtet zu werden. Er darf niemals erniedrigt, verfolgt, gebrandmarkt oder geächtet werden. Auch der Staat darf ihn niemals als Objekt seines Einflusses missbrauchen. Der Bundesgerichtshof (BGH) versteht unter Menschenwürde den „sozialen Wert- und Achtungsanspruch, der dem Menschen wegen seines Menschseins zukommt“ (siehe BVerfGE 87, 209), unabhängig von seinen Eigenschaften, seinem körperlichen oder geistigen Zustand, seinen Leistungen oder sozialem Status.

Diese Festlegung ist ebenfalls wieder im Blick auf die deutsche Vergangenheit wichtig, in der unter der Nazi-Herrschaft zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben unterschieden wurde. Das hatte Bedeutung etwa bei den sogenannten Euthanasie-Gesetzen, von denen sich das Grundsetz bewusst distanzieren wollte.

Ewigkeitsgarantie

Im Grundgesetz wird in Artikel 79, Absatz 3, geregelt, dass eine Änderung des Artikels 1 über die Menschenwürde unzulässig ist (neben anderen Artikeln, etwa Artikel über die föderative Struktur der Bundesrepublik). Diese „Ewigkeitsklausel“ oder „Ewigkeitsgarantie“ verhindert, dass die Menschenwürde unter Umständen durch eine neue Gesetzgebung außer Kraft gesetzt werden könnte. Eine solche verfassungswidrige Gesetzgebung wäre automatisch unwirksam. Denn die Würde des Menschen ist gleichsam angeboren und unverlierbar.

In Zeiten von Corona wird darum fortwährend über die Einschränkung von Freiheitsrechten diskutiert, die zur Würde des Menschen gehören. Diese Freiheitsrechte dürfen nur dann vorübergehend eingeschränkt werden, wenn damit ein höheres Gut, wie zum Beispiel das der Gesundheit der Gesamtbevölkerung, geschützt wird.  

Wer ist ein Mensch?

Ein wichtiges Problem ergibt sich daraus, dass nicht genau zu definieren ist, wer nun ein Mensch ist. Juristisch kann man nur sagen: Würde kommt jeder „natürlichen Person“ zu, ebenso den ungeborenen und den verstorbenen Menschen. Indirekt beschreibt man die Bereiche, in denen den Menschen von Staats wegen Schutz gewährt werden muss.

In den vergangenen Jahrzehnten gab es besonders im Blick auf den Schutz des ungeborenen Lebens heftige Auseinandersetzungen. Hier nämlich wurde einmal die Frage entscheidend, ab wann das gezeugte Leben im Mutterleib ein Mensch sei. Pragmatisch hat man in der deutschen Gesetzgebung entschieden, dass Abtreibung unter bestimmten Voraussetzungen bis zum Ende des dritten Schwangerschaftsmonats möglich ist. 

Andere nehmen im Anschluss an Aristoteles (384-322 v.Chr.) und andere eine sukzessive Beseelung der Eizelle an. Demnach erhält der männliche Embryo eine menschliche Seele 40 Tage, der weibliche 90 oder 80 Tage nach der Empfängnis. Das hat zur Folge, dass bis zu den entsprechenden Zeitpunkten kein menschliches Leben vorläge. Darum kann nach solchen skurrilen Konzepten abgetrieben bzw. können mit Eizellen Experimente etwa in der Gentechnologie gemacht werden.  

Wer garantiert diese Würde?

Die Willkür dieser Annahmen ist offensichtlich. Damit wird Menschenwürde als schützenswertes Gut bei ungeborenem Leben beliebig. Die Haltung der Kirche dazu ist eindeutig: Nach der ersten Teilung der befruchteten Eizelle liegt ein Leben vor, dem menschliche Würde zukommt und das geschützt werden muss.

Wer verhindert, dass das, was mit menschlicher Würde gemeint ist, nicht willkürlich umdefiniert wird? Wer verhindert, dass ein Staat nicht ein Punktesystem einführt, in dem wie etwa in China Werte und Würde des einzelnen Menschen nach dessen Willfährigkeit und Gehorsam gegenüber dem Staat festgelegt wird. 

Hier wird deutlich, was der  Staats- und Verwaltungsrechtler und Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde erstmals 1964 formulierte: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ 

Wenn Würde mit anderen Rechten kollidiert

Ein weiteres Problem: Wie ist es um die Würde des Menschen bestellt, wenn ihr andere Persönlichkeitsrechte gegenüber-
stehen? Im Fall der Möglichkeit zur Abtreibung steht der unangreifbaren Würde des Ungeborenen das Recht der Selbstbestimmung der Mutter gegenüber. Wenn jemand die Würde eines Menschen etwa durch den falschen Vorwurf untergräbt, er habe sexuellen Missbrauch begangen, steht das Recht der freien Meinungsäußerung der Würde des Betroffenen gegenüber. Wenn jemand in einem Kabarett Gestalten des Glaubens, seien es Jesus Christus oder Mohammed, verunglimpft, stehen künstlerische Freiheit und mangelnder Respekt gegenüber der Glaubensüberzeugungen gegeneinander. Fake News über Personen, die die Würde dieser Menschen erheblich schädigen, werden kaum geahndet. 

An diesen Beispielen wird deutlich: Was auf den ersten Blick so klar erscheint – dass nämlich die Würde des Menschen unantastbar sei –, erweist sich auf den zweiten Blick in der Praxis nur als eine Leitplanke für die Rechtsprechung und eine allgemeine Richtschnur für den Umgang zwischen den Menschen. Wir sind permanent aufgefordert, wachsam zu sein und immer neu uns zu fragen: Gehe ich mit meinem Leben und mit dem Leben anderer mit Ehrfurcht, Hochachtung und Wertschätzung – oder besser gesagt:  und mit Würde-Schätzung – um?

 

Hubertus Brantzen

Prof. Dr. Pastoraltheologe, Mainz.

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Foto: © sensum