0261.604090

Menschliches Reifen

Menschliches Reifen

Eine Einladung zum Nach-Denken

von Joachim Söder

Was verstehen wir eigentlich genau darunter, wenn wir von „menschlicher Reife“ sprechen? Beim Käse scheinen wir ziemlich klar zu wissen, was einen „reifen“ Camembert von einem noch zu jungen oder einem gar schon „überreifen“ unterscheidet: das Aroma und die Textur. Beides nehmen wir mit unseren Sinnen – Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn – auf, und beides lässt sich darüber hinaus auch objektiv-wissenschaftlich beschreiben, beispielsweise durch die Anzahl und Aktivität der Milchsäurebakterien und der daraus entstehenden chemischen Umwandlungsprozesse. Ein reifer Camembert ist nicht mehr so fest wie ein noch junger, aber auch noch nicht in den cremig-fauligen Zustand der Überreife übergegangen. Er duftet und schmeckt würziger und intensiver als ein noch unreifer, aber es fehlen ihm die bisweilen unappetitlichen Vergärungsnoten des zu weit fortgeschrittenen Produkts. Wir können festhalten: Reife ist ein qualitativer Optimum-Zustand zwischen einem Zuwenig und einem Zuviel; vor der Reife sind noch nicht alle Potentiale entfaltet, nach der Reife hingegen tritt eine Verfallsdynamik ein, die das Produkt letztlich ungenießbar macht.

Zwischen realisierten Chancen und Verfall

Dieses Verständnis von Reife lässt sich zunächst recht problemlos auf menschliche biologische Prozesse übertragen: Wir kommen auf die Welt mit einer großen Anzahl von Potentialen, Fähigkeiten, Entwicklungsmöglichkeiten. Wir realisieren im Lauf der Jahre eine ganze Reihe dieser in uns angelegten Chancen. Irgendwann aber setzen Abnutzung- und Verfallsprozesse ein, die zu immer größeren organischen Dysfunktionalitäten führen und mit dem Absterben des Organismus enden. Die biologische Reifezeit des Menschen wäre also jene Spanne, in der die Anlagen weitestgehend entfaltet sind und die Auflösungstendenz noch nicht so stark eingesetzt hat, dass sie die Lebensqualität mindert.

Aber ist das die Vorstellung, die wir mit „menschlicher Reife“ verbinden? Wohl eher nicht. Offensichtlich stößt das bis hierin verfolgte biologische Reifungs-Konzept an seine Grenzen: Der Camembert reift von alleine: Seine Ingredienzien setzen in Verbindung mit seiner Umwelt chemische Reaktionen in Gang, die unbewusst, unwillkürlich und notwendig ablaufen. Und die Reifung eines Menschen zur Persönlichkeit? Sie ereignet sich wohl kaum auf diese passive Weise. Denn anders als der Camembert gärt der Mensch nicht nur vor sich hin, sondern er erlebt sich selbst in diesem Gärprozess – etwas vornehmer ausgedrückt: er erlebt sein Leben. Als Menschen ist uns ein Bewusstsein davon gegeben, was „in“ uns abläuft: Wir empfinden Schmerz und Lust, wir erinnern uns an vergangene Empfindungen, wir übertragen Erfahrungen, die wir bei und mit anderen Menschen machen, auf uns selbst, und wir projizieren Vorstellungen von uns in die Zukunft: Was esse ich heute zu Mittag? Wohin geht der nächste Urlaub? Was mache ich nach der Rente?

Einfluss nehmen auf bestimmte Abläufe

Durch dieses Bewusstsein, das unsere Lebensprozesse stets begleitet, können wir in gewissem Maße sogar Einfluss auf diese Abläufe nehmen: Wir können uns „bewusst“ ernähren – oder es auch sein lassen, wir können Sport treiben, unsere Physis optimieren, Anti-Aging-Präparate schlucken, achtsam sein. Und dennoch wissen wir: Den finalen Verfallsprozess werden wir allenfalls hinauszögern, nicht aber verhindern können. Der Mensch weiß, dass am Ende des Lebens der Tod steht, sein eigener, höchstpersönlicher Tod – unausweichlich.

Was zählt am Ende wirklich?

Und noch einmal die Frage: Was hat das mit menschlicher Reife zu tun? Es ist das Bewusstsein unserer eigenen Hinfälligkeit, unserer Sterblichkeit, unserer Endlichkeit, die uns gleichsam „von außen“ auf unser Leben schauen lässt: Was zählt denn wirklich, wenn am Ende doch der Tod eintreten wird? Diese Sichtweise katapultiert uns mit einem Schlag aus dem blinden, unbewussten Naturkausalismus hinaus: Wir schauen auf uns, auf die Herrlichkeit und Hinfälligkeit unseres Körpers, von einer nicht-körperlichen, nicht-biologischen Warte aus. Wir sind“ nicht nur unser Körper, sondern wir haben“ ihn: da ist etwas in unserem Selbst, das Körper „hat“ und nicht nur Körper „ist“; da ist etwas, das Aufstieg und Niedergang des Körpers „von außen“ beobachtet, ohne in derselben Weise selbst dem Verfall zu unterliegen.

Wer diese Perspektive auf das Leben nicht leichtfertig verdrängt, den macht sie ernst. „Der im Ernst gedachte Gedanke an den Tod ermöglicht erst wahres, wirklich gelebtes und gerichtetes Leben“ (M. Theunissen). Angesichts des biologischen Endes jedes menschlichen Organismus verlieren viele scheinbare Wichtigkeiten ihren Wert; andere hingegen gewinnen unersetzliches Gewicht. Der Ernst der Endlichkeit kann unser Leben neu ausrichten: Was kann und muss ich tun, um am Ende zufrieden und dankbar zu sein? Wie muss ich heute – hier und jetzt, in diesem Augenblick – leben, lieben, ja: und auch leiden, um diese Dankbarkeit zu erringen? Das Bewusstsein unserer Begrenztheit zeigt uns eine Wahrheit, die uns herausfordert, aus allen Vorläufigkeiten herauszutreten, und die uns einlädt, im Einklang mit ihr zu leben.

Die Endgültigkeit, mit der im Tod ein biologischer Prozess endet, bringt uns vor die Frage, was am Ende wirklich Gültigkeit besitzt, und ob dieses Ende ein Aus ist oder ein Durchgang, ein „Ende ohne Ende“ (J. Splett).

Das eigene Leben im Licht der Wahrheit leben

Der Mensch kann und er muss sich zu seinem Leben bewusst verhalten. Indem er dies tut, verhält er sich zugleich auch zum Ende seines Lebens, zum Tod. Dies unterscheidet ihn vom Transformationsprozess eines Camemberts, der blindlings, unwillkürlich und unbewusst vor sich hin gärt. Anders als beim Käse, bei dem sich die Reife von alleine einstellt, sprechen wir von menschlicher Reife, wenn die Person ein Verhältnis zu ihrem eigenen Leben gefunden hat, und wenn dieses Verhältnis den Menschen in den Ernst der Wahrheit gerufen hat. 

Haben also Reifungsvorgänge von Naturprodukten und von Personen doch weniger miteinander gemein, als anfangs angenommen? Das eigene Leben im Licht der Wahrheit zu leben, setzt auch auf der biologischen Ebene eine Entwicklungsstufe voraus, die nicht mehr nur infantil ist. Erfahrungspotentiale müssen entfaltet worden sein, damit überhaupt die Frage nach dem, was im Leben wirklich zählt, gestellt werden kann. Die biologische Reife ist also die Grundlage der Persönlichkeitsreifung. Aber sie ist nicht mit ihr identisch: Wo der organische Gärungsprozess bereits zur Überreife und zum Verfall fortschreitet, kann die persönliche Reifung immer noch voranschreiten, und vielleicht sogar intensiver als zu Zeiten des biologischen Optimums.

Joachim Söder

Professor Dr., Hochschullehrer für Philosophie an der Katholischen Hochschule NRW, Vorstandsmitglied im Josef-Kentenich-Institut.

Download basis → Shop


Beitragsfoto: © Pixel-Shot · stock.adobe.de