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Mit dem Gewöhnlichen rechnen

Mit dem Gewöhnlichen rechnen

von Hans-Martin Samietz

Es gehört zum Grundvollzug von Soziologie, dass Langeweile ihr täglich Brot ist. Der belgische Astronom und Mathematiker Adolphe Quetelet (1796-1874) staunte Mitte des 19. Jahrhunderts nicht schlecht, dass so etwas wie die Wahl des Partners, den jemand heiratet, in seinen Augen sehr strengen Regelmäßigkeiten folgt. Er rekombinierte die Daten zur Heirat aus öffentlichen Heiratsregiestern mit anderen in selben Listen mitdokumentierten Merkmalen, die Personen haben (wie z. B. Alter, Konfession, Alphabetisierung, …), und meinte daraus schließen zu können, dass es ziemlich voraussagbar sei, wen man nicht heiratet, obwohl man mit dieser Person in derselben Stadt wohnt. Er war einer der Ersten, die das mathematische Verfahren der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Voraussagen über zukünftiges Verhalten von Menschen anwandte. Große Berühmtheit erlangte seine Feststellung, dass die Staatsausgaben für Gefängnisse und Schafotte immer dieselben sind und er schloss daraus, dass das Verbrechen durch erzieherische Maßnahmen nicht verringert werden kann. Es gehört zum System.

Solchen Schlüssen zugrunde liegt die Entdeckung, dass viele Abweichungen im menschlichen Verhalten in etwa gleich verteilt sind, wie Störungen in der Natur, zum Beispiel die Häufigkeit, dass im Flachland in unseren Breiten im Mai Schnee fällt oder dass wir uns im November einen Sonnenbrand zuziehen können. Für Menschen, die konkret von einem Verbrechen oder extremen Wetterlagen betroffen sind, macht dieses Ereignis unter Umständen einen entscheidenden Unterschied für ihre persönliche Zukunft. Für die Bevölkerung oder für die langfristige Fruchtbarkeitserwartung einer Landwirtschaftsregion bleibt trotz eines solchen Ereignisses alles beim Alten.

Das ist die Langeweile, auf die sich soziologische Forschung einstellen muss, dass Beobachter erst ab einer hohen Summe von notierten Messdaten Gesetze erkennen, die Prognosen erlauben. Und dennoch ist sie nicht mehr wegzudenken aus dem Funktionieren unseres Lebens, die Zeit, die investiert wird, um stupide zu zählen. Personaleinsatz, Geldströme und Maßnahmenkataloge, die unser tägliches Leben beeinflussen, haben als Grundlage den langweiligen Vorgang des Zählens. Nicht umsonst nahm die „Zählmaschine“ Computer ihre allseits bekannte steile Karriere.

Tut sich also die Soziologie mit ihrem Blick auf die Wiederholung von Messergebnissen schwer mit dem Erkennen von verheißungsvollem Neuen, wie wir es in unserer auf Spiritualität gegründeten Lebensführung gerne als Grundlage unserer Entscheidungen hätten? Taugt ihr Blick auf die Welt für die Gestaltung meines geistlichen Lebens? Oh ja!

Jesus, der Statistiker

Mit einem von Wahrscheinlichkeitsdenken geprägten Blick auf die Welt setzte sich Jesus im Moment der Entscheidung seines Lebensweges (unmittelbar vor seinem Einzug in Jerusalem) auseinander, indem er darauf hinweist, dass es sich gelohnt hat, viel Geld in eine symbolische Handlung zu investieren, statt es in diesem Moment den Armen zu geben. „Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer“ (Joh 12, 8), entgegnet Jesus Judas, der zu Protokoll gab, dass das Geld besser in die Armenhilfe investiert worden wäre statt in das teure Öl, mit dem Maria von Betanien Jesu Haupt kurz zuvor gesalbt hatte.

Dieses prominente Beispiel steht dafür, dass viele notwendige Veränderungsprozesse deshalb verhindert werden, weil sich Menschen lieber in den Bereich des naheliegenden Normalen flüchten, als auf ein unbekanntes Pferd zu setzen. Wissen um die Gesetzmäßigkeit von großen Zahlen und die Dynamik von Wahrscheinlichkeit hilft den Innovationswilligen hingegen sehr, Scheinargumente als bloße Verweigerung, sich auf etwas neues einzulassen, zu entlarven. Das zeigt diese Bibelstelle.

Kentenich, der Kybernetiker

Ganz entsprechend der Gesetze großer Zahlen versteht Pater Josef Kentenich (1885-1968) Pädagogik auch nicht so sehr als Werben um das richtige Verhalten in einer konkreten Situation (Kasuistik), sondern er zielt mit seinen „Erziehungsmitteln“ Selftracking (Geistliche Tagesordnung „GTO“), Mentoring („geistliche Begleitung“) und Selbstbildarbeit (Partkularexamen „PE“/ Persönliches Ideal „PI“) auf die Systemvoraussetzungen für moralisches Verhalten. Adolph Quetelet empfiehlt den politischen Verantwortungsträgern seiner Zeit im Anschluss an seine Feststellung über den immer gleichbleibenden Prozentsatz an delinquenten Personen, die Menschen „durch Verbesserung von Einrichtungen, Sitten, Gebräuchen und Aufklärung“ (Über den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten, 1835) an das Gute zu gewöhnen. Josef Kentenich sensibilisiert für den möglichen Erfolg von Selbstleitung, indem er erstrebenswertes Verhalten nicht an einem breit akzeptierten Mittelmaß (Quetelet, „Mittelmensch“) orientiert, sondern alle seine Erziehungsbemühungen auf die Person der Gottesmutter hin ausrichtet. Im übertragenen Sinne tut er damit etwas, was sich mathematisch als Verschiebung des Grenzwertes einer Normalverteilungskurve beschreiben ließe. 

Durch die Ausrichtung der menschlichen Motivation auf das Beispiel der Gottesmutter will er den Schwerpunkt der in Betracht kommenden Verhaltensmöglichkeiten „nach oben“ ziehen, wie man die Ränder einer Normalverteilungskurve kleiner werden lässt, indem man ihren Scheitelpunkt „nach oben“ zieht. Als Grundhaltung eines Pädagogen, einer Pädagogin postuliert Josef Kentenich im Anschluss an diese Weise „erzieherischer“ Tätigkeit die Fähigkeit, seine/n Gegenüber „emporbildend“ zu verstehen, sprich nicht den „Mittelmenschen“ in ihm/ihr zu sehen, sondern die Fähigkeit zu ehrfürchtigem, gottgebundenem Verhalten nach dem Beispiel der Gottesmutter.

Damit folgt Josef Kentenich einem wesentlichen Merkmal der Kybernetik („Regelungstechnik“), nicht direkt in einen Prozess einzugreifen nach dem Aktions-Reaktions-Schema, sondern wünschenswerte Resultate über das Setzen von Rahmenbedingungen und Kenntnis über wahrscheinliche Dynamiken innerhalb eines so begrenzten Systems mittelfristig hervorzurufen.

Mit beidem rechnen –
dem Gewöhnlichen und dem Außergewöhnlichen

Beide, Josef Kentenich und Adolph Quetelet, helfen uns, die Ressourcen für eine lebenswerte Zukunft zunächst in der Kultur einer Gesellschaft zu suchen und nicht allein im sehr begrenzten Vermögen einer einzelnen Person, ihr Verhalten kurzfristig ändern zu können. Aus soziologischer Sicht entspricht die Bündnisspiritualität Schönstatts sehr diesem modernen, durch soziologische Forschungen geprägten Weltverständnis. Wer die Welt gestalten will, braucht ein Verständnis von dem, wie vieles mit vielem zusammenhängt. Moralische Apelle an die Adresse einer einzelnen Person sind da kontraproduktiv.

Ob sich nun hinter einer Abweichung vom Normalen, einem besonderen Erlebnis, vielleicht eine zukünftige Normalität (das heißt Relevanz) verbirgt, lässt sich statistisch gesehen erst nach sehr langer Zeit sagen. Deshalb kommt es für die Gestaltung unserer Welt sehr auf einen den Wahrscheinlichkeitsfokus ergänzenden Blick an. Die Schönstättische Spiritualität nennt einen solchen Blick Vorsehung. Der Blick der Vorsehung rechnet mit der Wirklichkeitsmacht des Unscheinbaren/Zufälligen, „mich aber habt ihr nicht immer“ (siehe Bibelstelle oben). Mit diesem Blick kann Schnee im Mai als Hinweis auf eine Veränderung im Klimasystem, auf eine „neue“ Realität jenseits des aktuell Normalen interpretiert werden und entsprechendes Verhalten folgen. Mit diesem Blick kann eine zufällige Begegnung während eines Spaziergangs als entscheidende Lebenswende gedeutet werden.

Wissenschaftliche und spirituelle Weltsichten haben füreinander Ergänzungsfunktion. Beide sehen die Wirklichkeit in einem je andern Punkt scharf.

 

Hans-Martin Samietz

Mitglied der basis-Redaktion.
Schönstatt-Pater.

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