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O Heiland, reiß die Himmel auf

Abgesägter Baumstumpf blüht neu auf

Als man noch Hexen verbrannte: Verzweiflung und Hoffnung in einem gewaltigen Adventslied aus der Barockzeit

von Christian Feldmann

Der „Ohrwurm“ unter unseren Adventsgesängen stammt von einem genialen Barockdichter, der gleichzeitig ein couragierter Kämpfer für die Menschenrechte war: 1622, als der Jesuit Friedrich Spee sein Theologiestudium in Mainz fast abgeschlossen hatte und sein Lied „O Heiland, reiß die Himmel auf“ zum ersten Mal drucken ließ, regierte dort der Erzbischof und Kurfürst Johann Schweikard von Kronberg, der insgesamt 361 „Hexen“ hinrichten ließ. Spee stritt als einer der Ersten gegen die Folter und für rechtsstaatliche Prinzipien, er gab den unschuldig Leidenden eine Stimme und machte aus ihrem himmelschreienden Elend einen Schrei zum Himmel: qualvoll, anklagend, ratlos und am Ende in ein tastendes Vertrauen mündend: 

„O Heiland, reiß die Himmel auf,
herab, herab vom Himmel lauf.
Reiß ab vom Himmel Tor und Tür,
reiß ab, wo Schloss und Riegel für.

Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt,
darauf sie all ihr Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal,
komm, tröst uns hier im Jammertal.“

Es ist ein beunruhigender, herber, bedrängender Text, ein verzweifeltes Weinen im Dunkel, ein stürmisches Rufen nach Gott, der den Himmel „aufreißen“, die Riegel „abreißen“, zu seiner verwüsteten Schöpfung „herablaufen“ und die verlorenen Menschen retten soll – nicht irgendwann, bei der endgültigen Abrechnung am Jüngsten Tag, sondern jetzt, auf der Stelle, ganz schnell. Harte, beim Propheten Jesaja entlehnte Metaphern malen Finsternis und Verzweiflung. Es überrascht nicht, dass die evangelische Jugend- und Singbewegung das eine Zeitlang vergessene Lied ausgerechnet während des Ersten Weltkriegs wiederentdeckt hat.

Weiches Wasser bricht den Stein

Für die Rettung aber stehen die Bilder von Tau und Regen – nach antiker Mythologie befruchtet der Himmel die Erde -, von Blume und Wurzel: Weiches Wasser bricht den Stein. Gegengewalt und aggressive Macht können nicht erlösen, nur zerstören. Das Leben wächst klein, unscheinbar, sanft, aber unaufhaltsam, zäh und kraftvoll aus der Erde empor. Das hilflose Kind rettet. Mitten in der seelischen Trümmerlandschaft von Einsamkeit und Verzweiflung brechen sich neue Kräfte Bahn, die am Ende stärker sein werden als die Kräfte des Todes.

„O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd,
dass Berg und Tal grün alles werd.
O Erd, herfür dies Blümlein bring,
o Heiland, aus der Erden spring.“

Ein Lied für den Katechismusunterricht

Der Liedtext des Jesuitentheologen und einstigen Gymnasiallehrers Friedrich Spee, das 1622 in Würzburg in dem Gesangbuch „Das Allerschoenste Kind in der Welt / Die Gottheit in der Menschheit etc. / Wunder über Wunder“ erscheint und bald auch in Kölner, Mainzer, Paderborner, Augsburger Liederbüchern auftaucht, wird zunächst in den oft von Jesuiten geleiteten Katechismusschulen verwendet worden sein. „Wer Christus sey / lern junger Christ“, heißt es in einer Vorrede zur Erstveröffentlichung. „Zur Seligkeit es noethig ist / Wer Christus sey / hie fleissig such / Kurtz alles steht in diesem Buch.“

Interessanterweise ist jenes 1666 in Augsburg von einem katholisch gewordenen Landgrafen herausgegebene „Rheinfelsische Gesangbuch“, in dem das Lied zum ersten Mal mit der bis heute bekannten Melodie auftaucht, bereits ökumenisch geprägt; es enthält 76 Lieder aus der evangelischen und 82 aus der katholischen Tradition. Die Ausgangssituation ist zeitlos: die Gottferne, in der sich die ganze Welt in den Jahrtausenden vor der Menschwerdung Jesu befand und die gläubige und weniger gläubige Menschen genauso auch heute spüren, weil der in Jesus unter ihnen erschienene und gegenwärtige Gott oft scheinbar schweigt und alles gegen seine Präsenz zu sprechen scheint.

Spee schildert diese triste, aber von einer leidenschaftlichen Hoffnung durchbrochene Situation einerseits in farbigen, starken Bildern aus der prophetischen Tradition: „Taut, ihr Himmel, von oben, ihr Wolken, lasst Gerechtigkeit regnen!“, ruft Jesaja. „Die Erde tue sich auf und bringe das Heil hervor.“ Nach den lateinischen Anfangsworten dieser Verse heißt das oft im Kerzenlicht und am frühen Morgen gefeierte Engelamt der Adventszeit „Rorate“.

Zum andern orientiert sich Spee deutlich an der katholischen Adventsliturgie seiner Epoche, etwa an den sieben „O-Antiphonen“, denen die vielen Imperative des Gesangs entsprechen:

 „O klare Sonn, du schöner Stern,
 dich wollten wir anschauen gern.
 O Sonn, geh auf, ohn deinen Schein
 in Finsternis wir alle sein.“

„Die Herrlichkeit des Herrn geht strahlend auf über dir“, weiß der Prophet Jesaja, der wie Friedrich Spee Himmel und Erde, Licht und Dunkel, Elend und Vaterland in schmerzhaften Kontrast zu bringen pflegt und die Erlösung aus der Erde sprießen lässt: „Doch aus dem Baumstumpf Isais“, die „Wurzel Jesse“ sagte man früher dazu, „wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.“ Gott selbst wird sein verzweifeltes, verbittertes Volk „vom Elend zu dem Vaterland“ führen, aus dem „ewigen Tod“ in ein Leben, das bleibt.

Wobei man diese behutsamen Andeutungen gar nicht so lange Zeit nach Spees Tod, in der 1666 in Erfurt erschienenen „Geistlich Nachtigal“, auf ziemlich drastische Weise mit einer siebten Strophe ergänzt hat, die christliche Hoffnung sieghaft formuliert, zum ursprünglichen Gedankengang aber nicht recht zu passen scheint:

 „Da wollen wir all danken dir
 unserm Erlöser für und für
 da wollen wir all loben dich
 ja allzeit immer und ewiglich.“

„Seuftzen der Alt Vätter in der Vorhöll“ haben die Erfurter das Lied jetzt genannt und den Schrei nach Befreiung damit in graue Vorzeit verlagert. In der Aufklärungsepoche geht die Botschaft dann vorübergehend völlig verloren. Ein Würzburger Kirchengesangbuch 1828:

„O Heiland! thu´ den Himmel auf!
rief einst die Welt: Nimm deinen Lauf
zu uns, hör´ unser Klaggeschrei!
Mach uns vom Suenden-Joche frei.

Und du erfuelltest, Herr, dein Wort:
Du sel´ges Bethlem warst der Ort:
In dir stieg endlich der herab,
der Gottes Gnad´ uns wiedergab.“

Private Sündenschuld statt der Gottferne. Und nicht mehr die in der Kirche versammelten Gottesdienstbesucher rufen nach Erlösung und Zukunft, die haben sie ja längst, seit „Betlhem“, sondern die in der Vorhölle darbenden Patriarchen des Alten Bundes. Dabei hätte Spees unsterbliches Adventslied das Zeug, die für das Christenleben charakteristische Spannung zwischen dem „Schon“ und „Noch nicht“ exemplarisch abzubilden: Die Wiederkehr des Herrn und die endgültige Erlösung der Welt stehen noch aus, Gottferne wird auch heute erfahren – aber auch Trost und eine zähe Gewissheit. Denn die Rettung hat schon begonnen in der Menschwerdung Gottes, und ihre Spuren in der Welt lassen sich nicht auslöschen.

Christian Feldmann

geb. 1950, Theologe und Soziologe, Journalist und freier Schriftsteller, Verfasser zahlreicher Biographien von Heiligen und spirituellen Querköpfen.

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