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Politische Landschaften im Wandel

Politische Landschaften im Wandel

von Martin Patzelt

Die Anerkennung der Menschenrechte in unserer Verfassung, die ein hohes Maß persönlicher Freiheit und damit Selbstverantwortung für die eigene Lebensgestaltung mit sich bringt, geht einher mit der Auflösung herkömmlicher Lebensmuster, Normen, auch Wertvorstellungen. Traditionen verlieren im Zeitraffertempo ihre Bedeutung, und die Auseinandersetzung um die „richtigen Lebensformen“ gewinnt an Dynamik und Schärfe. Individuelle Lebensziele werden mehr und mehr von dem Bedürfnis nach einem Zuwachs an Sicherheit, materiellen Möglichkeiten und unbeschadeter persönlicher Freiheit bestimmt.

Leben in einer globalisierten Lebenswelt

Wir leben mit einem enormen Zuwachs an Wissen und an Beschleunigung. In weniger als 24 Stunden können wir heute mit dem Flieger die ganze Erde umrunden. Nachrichten und Bilder kommen über Internet-Verbindungen fast zeitgleich in allen Teilen der Welt an. Dadurch werden unterschiedliche Lebensverhältnisse weltweit für Menschen vergleichbar und Entfernungen relativ schnell überwindbar. Immer mehr Menschen in Armut, Krieg und Verfolgung – derzeit sind es weltweit 65 Millionen – brechen aus ihrer Heimat auf, um Sicherheit und ein besseres Leben zu suchen. Ein Leben, das ihnen durch Bilder und Nachrichten wie das Paradies erscheinen muss.

Durch die weltweite Verbundenheit, durch den Austausch von Produkten und Rohstoffen, auf den Finanzmärkten, über die neuen Medien, die Touristik, den wissenschaftlichen und technischen Austausch, durch eine wachsende Zahl von touristischen Fernreisen, durch die Veränderung des Weltklimas, entwickelte sich – gewollt oder ungewollt – eine globalisierte Welt. Die Menschheit wird immer mehr zu einer Schicksalsgemeinschaft. Diese Weltgemeinschaft ist aber als Ganzes nicht handlungsfähig. Nationale und regional sehr ungleiche Entwicklungsstände, kulturelle Gegebenheiten, politische Sichtweisen und Eigeninteressen sind Ursache schwerer und schwerster Konflikte, die ein gemeinschaftliches Entscheiden und Problemlösungen enorm behindern oder unmöglich erscheinen lassen.

Bedürfnis nach Sicherheit

Erwartungen der Menschen in unserer Gesellschaft an die Politik aber sind insbesondere gerichtet auf Sicherheit des persönlichen Lebens, Schutz vor Krieg und Katastrophen, vor Krankheit und Kriminalität und die Erhaltung sowie Optimierung der materiellen Lebensausstattung möglichst auf dem höherem Niveau, über das andere verfügen, auf die Förderung der eigenen Bildung, Ausbildung und der ihrer Kinder sowie der beruflichen Karriere.

Das bedeutet, dass Politik den Frieden für das Land in einer Welt suchen und sichern muss, in der zunehmend Nationalismen und Konflikte eine Kriegsgefahr fördern. Dass Wirtschaft und Handel so zu entwickeln und zu fördern sind, dass der Mehrwert zur materiellen Sicherung der Bedürfnisse ausreicht und wächst. Dass Energie und Lebensmittel, Wohnungen, Bildungsangebote ausreichend und in wachsender Qualität vorhanden sind. Dass die gesuchte Mobilität im Lande und außerhalb des Landes optimiert wird. Dass innerhalb der Gesellschaft ein Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Lebensvorstellungen, Wertvorstellungen, Generationen und kulturellen wie politischen Lebensvorstellungen gesucht werden muss, auch um den inneren Frieden zu sichern.

Jeder denkt beim Wählen erst mal an sich selbst

Wähler werden von der Politik das jeweils ihnen prioritär Wichtigste einfordern und wenig Verständnis für politische Aktivitäten und Verteilung von Steuereinnahmen entwickeln, die den jeweils eigenen Erwartungen nicht oder scheinbar widersprechen. Sich wandelnde Mehrheiten bei Wahlentscheidungen in der demokratischen Gesellschaft aber werden Ziele, Gewichtung und auch Werte der politischen Akteure verändern. Vermittlungs- und Erklärungsbemühungen der politisch Verantwortlichen werden umso schwieriger, je mehr die mediale Berichterstattung aus eigenen (nachvollziehbaren) wirtschaftlichen Interessen die Erwartungen ihrer Nutzer spiegelt statt Zusammenhänge zu erklären. Sie bedienen oft mehr das zunehmende Bedürfnis nach Unterhaltung, Skandalisierung und Parteinahme, um Konsumenten an sich zu binden. Diese Entwicklung läuft parallel zu einer sich differenzierenden, diversifizierenden, von immer mehr Einflüssen und Schwierigkeiten bestimmten Welt ab. Schlicht gesagt: Man blickt immer weniger durch in einer komplizierter werdenden Welt.

Einfache Deutungen von gestern und Schwarz-Weiß-Urteile werden dieser Wirklichkeit nicht mehr gerecht. Es bedarf tatsächlich geistiger Anstrengungen an Information und zusammenhängendem Denken, um politische Probleme und Lösungsbemühungen einigermaßen nachvollziehen zu können. Diese Situation bereitet den Menschen zunehmend Probleme – nicht nur geistiger, sondern auch emotionaler Art.

Differenziertes Denken ist schwer, aber notwendig

Meiner persönlichen Einschätzung nach lösen sich die klassischen Muster politischer Lager zwischen rechts und links, den Anwälten maximaler individueller Freiheit und Selbstverantwortung auf der einen Seite, und den Kämpfern um vergleichbaren gerechten Zugang zu verfügbaren Gütern resp. finanziellen Mitteln auf der anderen Seite zunehmend auf. Das politische Lebensgefühl der Menschen wird zunehmend entweder von einem SO NICHT WEITER und regressiven Stimmungen oder dem politischen Ringen um die besten Wege für die drängende Zukunftssicherung bestimmt.

Die emotionale Betroffenheit angesichts der erfahrenen Unsicherheit (Finanzkrise, Flüchtlingsströme, terroristische Anschläge, Kriminalität, Kriegsgefahr in nächster Nachbarschaft) gibt politischen Kräften Raum und Chancen, die eine kurzfristige Lösung der Probleme versprechen. Die dafür benannten Voraussetzungen sind Rückkehr in eine Nationalpolitik, die sich gegen Fremde (Flüchtlinge, Einwanderer) abschottet, die allein und zuerst auf ihre nationalen wirtschaftlichen Interessen und kulturelle Identität setzt und die durch ein Mehr an Regeln und Normen für das Zusammenleben und deren Überwachung mehr Übersicht, Sicherheit und Wohlstand für das eigene Volk bringt. Diese Politiker bezeichnen sich als alternative Kraft und stehen zumeist in direkter Opposition den etablierten politischen Akteuren gegenüber. Sie erzielen in demokratischen Ländern – auch in Deutschland – beachtliche und zunehmende Wahlerfolge.

Gegen populistische Vereinfachung

Solche Erfolge zwingen Parteien und Politiker, die sich um die Lösung der drängenden Zukunftsaufgaben ebenso kümmern müssen wie um das Lebensgefühl der Menschen im Lande, ihre Programme auf die vordergründigen, aktuellen Bedürfnisse abzustimmen, wenn sie in Verantwortung regieren wollen oder zumindest im Bundestag vertreten sein möchten.
Die Lösung der Zukunftsaufgaben und globales Handeln, das Bemühen um abgestimmtes gemeinschaftliches Handeln oder zumindest um politischen Ausgleich mit anderen Ländern zwingen zu Rücksichtnahmen und dem Einsatz materieller Ressourcen. Aufgabe der Politik ist es, diese Notwendigkeit zu vermitteln.
Genau vor dieser Herausforderung steht Politik in unserem Land heute: Einsicht und Bewusstsein dafür zu fördern, dass internationale Verantwortung und nachhaltige Politik unverzichtbar für unsere Sicherheit und unser heutiges wie morgiges Wohlergehen sind. Und dass der populistisch überhöhte Widerspruch zwischen globaler Verantwortung und Sorge um das Hier und Jetzt genauso dazu gehört wie der Schutz individueller Freiheit und deren Einschränkung zum Wohle und zur Sicherheit der anderen und auch der eigenen.

Aufgabe der Politik:
Einsicht und Bewusstsein schaffen

Vor der Bundestagswahl muss genau diese Auseinandersetzung geführt werden, mit den Mitteln, die dafür verfügbar sind. Wir müssen die Wähler zunächst auf das hohe Gut unserer demokratischen Verfassung aufmerksam machen. Unsere Verfassung kann auch verspielt werden, wenn man denen Vertrauen schenkt, die die Quadratur des Kreises versprechen und dabei Werte unseres Grundgesetzes infrage stellen. Wir müssen durch möglichst authentische Botschaften medial, oder besser noch in persönlichen Begegnungen von alternativen Programmen überzeugen, die unrealistischen Erwartungen entzaubern bzw. zwischen „Wünsch dir was“ und dem Machbaren unterscheiden helfen.

Authentische Politiker überzeugen

Meine persönlichen Erfahrungen aus mehreren Wahlkämpfen in scheinbar aussichtslosen Ausgangssituationen bestärken mich in der Überzeugung, dass mutiges Einstehen zu persönlicher Überzeugung und dabei auch mögliches kontroverses Argumentieren zu neuen Einsichten und sogar unerwartetem Wahlerfolg führen kann. Hilfreich ist es dabei immer gewesen, die kollektiven wie persönlichen Lebenserfahrungen vergleichsweise mit politischen Zielen und Notwendigkeiten zu diskutieren, die Vergleichbarkeit des Kleinen im Großen und des Großen im Kleinen zu erkennen. Und dabei auch festzustellen, dass politische, also auch Wahlentscheidungen immer eine Option und damit ein Wagnis in die Zukunft sind, die keiner vorhersagen kann, der man sich aber durch Erfahrung und Wertbewusstsein nähern kann.
Was hat uns bisher durch die Zeit und zu dem vergleichsweise guten Leben verholfen, das wir heute führen können? Waren es nicht immer auch Grundüberzeugungen von dem, was wir anderen Menschen und unserer Gemeinschaft schuldig sind, dass das Glück nicht auf dem Unglück des anderen aufgebaut werden kann, dass Leben nicht nur Lust, sondern auch Last bedeutet, und wir letztere nicht ohne Schaden aus unserer Wahrnehmung ausblenden dürfen. Denn das Tragen der Last – auch mit und für andere – ist eben für die Sicherung und Optimierung unseres Lebens unverzichtbar.
Gerade wir Politiker müssen diesen Diskurs führen und aushalten. Wir müssen zwischen Resignation und Rebellion immer neue Hoffnung aufzeigen wie den Silberstreifen am Horizont. Und wir müssen Menschen dafür gewinnen, dieser Hoffnung in ihren jeweiligen Lebenszusammenhängen entgegen zu leben. Gemeinschaftlich, solidarisch, voller Hoffnung auf das Gelingen in der Welt und damit auch für uns.

Martin Patzelt

ehemaliger Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt (Oder), seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages.

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