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Schwebezustand – oder: Die Wirklichkeit der Freiheit

Schwebezustand – oder: Die Wirklichkeit der Freiheit

von Joachim Söder

Im Englischen gibt es ein Wort für eine bestimmte Art von Spannung, die nicht einfach Nervenkitzel („thrill“) ist, sondern dadurch eintritt, dass die gewohnten Regeln nicht mehr gelten: „suspense“ – im Deutschen vielleicht am besten mit „Schwebe-“ oder „Ausnahmezustand“ wiederzugeben. Alles Gewohnte ist suspendiert, außer Kraft gesetzt, keine der eingespielten Routinen greift noch, jegliche Orientierung an erlernten Mustern ist aufgehoben. Was hat jetzt noch Bedeutung? Es ist, als ob das Getriebe ausgekuppelt ist: der Motor läuft, das Gaspedal funktioniert, aber es kommt keine Kraft auf die Räder. Leerlauf, Schwebezustand.

Plötzlich ist die Normalität aufgehoben

Wir alle haben in den vergangenen Wochen diese Situation erlebt, die allermeisten zum ersten Mal im Leben: das Selbstverständliche gilt nicht mehr, die Normalität ist – fast schlagartig – aufgehoben. Kontaktbeschränkungen, Ausgangsregelungen, Versorgungsengpässe, Restaurantschließungen, Versammlungsverbote, Homeschooling, Ostern ohne Gemeindegottesdienste… Niemand hätte vor drei Monaten für möglich gehalten, dass es derart massive Eingriffe in unsere Normalität geben könnte; niemand hätte geglaubt, dass in Friedenszeiten die verfassungsmäßigen Grundrechte derart drastisch eingeschränkt werden könnten. Niemand hat mit dem Ausnahmezustand gerechnet.

Es war der Däne Sören Kierkegaard (1813-1855), der die Ausnahme, nicht die Regel zum Ausgangspunkt seines Denkens machte: 

„Wenn man das Allgemeine recht studieren will, muss man sich bloß nach einer berechtigten Ausnahme umsehen; diese zeigt alles weit deutlicher als das Allgemeine selbst“ (Werke II 80). 

In der Ausnahmesituation kommt zum Vorschein, was unter der dünnen Kruste eingespielter Alltäglichkeit wirklich gärt. Hysterische Hamsterkäufe verraten mehr über den Geistes- und Seelenzustand einer verunsicherten Bevölkerung als methodisch ausgefeilte Meinungsumfragen. Noch rasch den eigenen Vorteil sichern, bevor ein anderer ihn mir wegschnappt – Solidarität muss man sich auch leisten können… Der Firnis zivilisatorischer Standards erweist sich an manchen Stellen als erschreckend fadenscheinig. Und zugleich gibt es auch imponierende Beispiele heroischer Selbstlosigkeit. Das Wegbrechen der gerade noch geltenden Regeln wirft uns alle auf die fundamentale Ungesichertheit menschlicher Existenz zurück. Wie konnten wir diese jahrtausendealte Grunderfahrung des Menschseins in den letzten fünfzig Jahren nur vergessen?

Angst vor nichts, Angst vor dem Nichts

Das elementare Lebensgefühl im Ausnahmezustand ist Angst – auch darauf weist uns Kierkegaard hin. Trotz allem technischen, wissenschaftlichen, zivilisatorischen Fortschritts gibt es plötzlich nichts mehr, an das ich mich noch festhalten kann; 

„die ganze Wirklichkeit des Wissen projiziert sich in die Angst als das ungeheure Nichts der Unwissenheit“ (I 42). 

Es ist dieses ungreifbare, unbegreifbare, und darum unheimliche, ja ungeheuerliche Nichts, das Angst macht; Angst vor nichts, Angst vor dem Nichts. Angst hat kein Objekt, auf das und gegen das sie sich richten kann, das macht ja ihre besondere Unheimlichkeit aus. Sie ist deshalb „gänzlich verschieden von Furcht und ähnlichen Begriffen, die sich auf etwas Bestimmtes beziehen“ (I 40). Eine solche unheimliche Angst äußert sich in dem beklommenen Lebensgefühl allseitiger Ungesichertheit.

Aber Ungesichertheit meint letztlich nichts anderes als: alles ist möglich. Und zu dem, was möglich ist, kann ich mich verhalten: entweder indem ich mich innerlich verkrieche, die Augen schließe und hoffe, dass das Unerwartete bald von selbst vorbeigeht, oder indem ich trotz allen Risikos auf die Möglichkeiten der Unsicherheit zugehe. Mein Verhalten zur Möglichkeit ist also selbst Möglichkeit: entweder Abwehr oder Annahme. Deshalb ist für Kierkegaard Angst „die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit“ (I 40). Es liegt an mir, wie ich auf den Ausnahmezustand, in dem nichts mehr gilt, reagiere; wo es keine Selbstverständlichkeiten mehr gibt, bin ich frei, weil auch mein eigenes Handeln unselbstverständlich ist. Der Ausnahmezustand ist die Situation, die mich in Freiheit versetzt.

Wirklichkeit gestalten oder sich überrollen lassen?

Diese Freiheit kann ich ergreifen und mich so zum Herrn über die Ausnahme machen. Oder ich ergreife – vielleicht aus Ängstlichkeit – die unselbstverständliche Freiheit nicht, dann gewinnt die Ausnahmesituation die Herrschaft über mich. Im einen Fall bin ich ich selbst, im anderen bin ich nur ‚man‘, dinghafte Verfügungsmasse einer unpersönlichen Macht.

So gesehen ist der Ausnahmezustand, in der das Geläufige suspendiert ist, eine echte Prüfung, denn er stellt mich radikal vor die Wahl: Will ich ich selbst sein oder will ich bloß sein, wie ‚man‘ so ist? Will ich die Wirklichkeit gestalten oder lasse ich mich von den Verhältnissen überrollen und mitreißen?

Und noch etwas führt uns der Ausnahmezustand vor Augen: Wo alle äußerlichen Gewissheiten und Gewohnheiten weggebrochen, wo alle Schablonen und Routinen ins Nichts gestürzt sind, da tritt unser verborgenes Inneres ans Licht, da zeigt sich, aus welchen Quellen wir leben, welches unsere innersten Antriebe sind. Wo alles Bedingte ‚ausgekuppelt‘ ist, stehen wir jäh und unvermittelt dem Unbedingten gegenüber. Kierkegaard spricht davon, welche „Idee“ in uns im Angesicht der „Ewigkeit“, die alles Kleinklein der Tagesmühe verblassen lässt, lebt. Diese Idee zu ergreifen und sie zum Lebensantrieb zu machen, ist die tiefste Verwirklichung von „Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit“. Es ist die entschlossene Absage an das bloße ‚man‘, es ist die Entscheidung zum Selbstsein und zur Wirklichkeitsgestaltung. Als Tat der Freiheit kennt sie keine Garantie des Gelingens, aber sie scheut nicht das Risiko. In diesem Spiel bin ich selbst zugleich der Einsatz und der Gewinn. Wer nicht sich selbst in Spiel bringt, hat bereits verloren. Und darum lässt Kierkegaard seine Figur des jungen Mannes, der im Schwebezustand zu sich selbst gefunden hat, ausrufen: 

„Es lebe die Lebensgefahr im Dienste der Idee, es lebe die Not des Kampfes, es lebe der festliche Jubel des Sieges, es lebe der Tanz im Wirbel des Unendlichen …“ (II 78).

Joachim Söder

Professor Dr., Hochschullehrer für Philosophie an der Katholischen Hochschule NRW, Vorstandsmitglied im Josef-Kentenich-Institut.

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