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Seht, ich mache alles neu · Auferstehung einer Kirche

Seht, ich mache alles neu

Auferstehung einer Kirche

Von Ulrich Emge

Am 3. April 2012 brannte die Kirche von Walldorf bei Meiningen (Thüringen) nur fünf Jahre nach ihrer 20- jährigen Renovierung komplett nieder. Die Brandursache konnte bis heute nicht gefunden werden. Nun ist die neue Kirche fast fertig gestellt. Am Tag des offenen Denkmals im September 2018 hatte Ulrich Emge bei der Begegnung mit dem neu entstandenen Raum und dem dortigen Pfarrer den Eindruck, dass hier viel mehr geschehen sei, als der Wiederaufbau einer Kirche. Er traf sich mit Pfr. Heinrich Freiherr von Berlepsch zum Interview.

Lieber Pfr. von Berlepsch, am 3. April 2012 ist Ihre Kirche in Walldorf komplett abgebrannt. Was war geschehen?

Ich bin 1987 als Pfarrer hierher gekommen, noch zu DDR- Zeiten, habe hier die Wende erlebt und hatte vorher einen anderen Beruf. Ich war Neueinsteiger, hatte zwar ein Theologiestudium, musste aber noch eine Weiterbildung machen, um zum zweiten Examen zu gelangen. Es gab damals Pfarrernotstand in der Region: auf 11 Pfarrstellen waren nur sechs Kollegen. Nach dem Theologiestudium bin ich nicht ins Pfarramt gegangen und meine Kollegen sagten, der lässt hier bei der Eisenbahn Züge fahren oder macht sonst was und wir wissen nicht, wie wir unseren Dienst machen sollen. Da habe ich gesagt: „Okay, okay“, bin nach Eisenach gegangen. Da saß unsere Kirchenleitung und da wurde dann entschieden, dass wir hierher nach Walldorf kommen. Walldorf war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre lang unbesetzt.

Als wir gekommen sind, habe ich festgestellt, hier war eigentlich alles kaputt, das Haushaltsvolumen reicht vorne und hinten nicht, um das alles in Stand zu halten. Und da ich eine „Bauphase“ in meinem Leben hatte – ich war Steinmetz und in der Baudenkmalpflege – und mein Leben lang gebaut habe, war es für mich dann eine Selbstverständlichkeit aus reinem Ordnungsbedürfnis und aus Leidenschaft, hier anzufangen zu bauen. Und das habe ich am Anfang allein begonnen. Das war ein relativ einsamer Start in Walldorf, auch wenn mir noch jemand mitgeholfen hat. Es waren letztlich zwei Dinge, die dazu geführt haben, dass die Gemeinde sich wiederbelebte: es war die Arbeit mit Kindern von meiner Frau und es war die Bautätigkeit, die die Leute animiert hat, zu kommen. Die Leute haben gesagt: was ist denn in der Kirche los? Unsere Kinder wollen dahin. Die wollen in den Unterricht. Das ist dann bis auf 70 Kinder angewachsen. Und meine Bautätigkeit hat bei vielen ausgelöst, dass sie sagten: wahrscheinlich doch kein Spinner. In der DDR galt man ja immer als intellektuell benachteiligt, wenn man noch an Gott glaubte. Das war so das Bild. Man war bemitleidenswert. Dieses Pfarrhaus habe ich in sieben Jahren selbst saniert und die Kirchenburg über einen Zeitraum von 20 Jahren – mit einem ganz tollen Ergebnis am Ende. Eine barockisierte Kirche, kreideweiß. Die alten Farben haben wir wieder gefunden und wieder gezeigt. Zuletzt, als das Geld alle war, haben wir gebaut mit Lehrlingen vom Berufsförderungswerk – die haben hier Praxis gelernt – und ein Restaurator dazu. Damit haben wir das Finish gemacht und waren 2007 fertig. Es ist eine richtig schöne Hochzeitskirche gewesen und diese Kirche haben wir fünf Jahre nutzen können.

Am Brandtag war ich gerade vom Zahnarzt zurückgekommen, da tauchte hier ein Gemeindekirchenrat auf und meinte: „Heinrich, komm rüber, die Kirche brennt!“ Ich sagte: „Du willst mich wohl verkohlen!“ Ich bin deswegen scherzhaft damit umgegangen, weil zuvor ein Kirchendiener mal im Kirchturm gefegt hatte und dabei kam so viel Staub aus dem Kirchturm, dass die Leute dachten, es brennt. Aber dieser Gemeindekirchenrat kam vom Bahnhof und hatte am Kirchenfirst Rauchentwicklung gesehen. Da sind wir rüber. Ich hatte mir gleich einen Feuerlöscher geschnappt, wir sind in die Kirche rein und da war alles schwarz, undurchsichtig bis so auf 1,50 Meter Höhe. Bis dahin konnte man einigermaßen klar sehen und da oberhalb war Nacht. Mir war natürlich klar, Kohlenmonoxyd usw., also in die Kirche rein, Luft anhalten, bloß nicht atmen und so sind wir zu zweit mit angehaltener Luft los. Die Feuerwehr kam bald, aber dieser Brand war nicht aufzuhalten. Das Dach war neu gedeckt. Jeder Dachziegel war angeklemmt mit einer Stahlspange, so dass man nicht im Löschverfahren die Ziegel davon fleddern konnte, um mit dem Wasser an den Brand zu gelangen. Sie mussten erst warten, bis die Dachlatten durchgebrannt waren. Und so ist die Kirche innerhalb von wenigen Stunden abgebrannt. Die elektrische Anlage war fünf Jahre alt, es war alles betreut. Es ist nie die Ursache für diesen Brand gefunden worden. Die letzte Kirchenführung davor war auch in Ordnung – die war nur wenige Stunden zuvor gewesen. Die Brandermittler können definitiv Brandstiftung ausschließen, ihre Hunde hätten sonst sicher einen Brandbeschleuniger wahrgenommen und das haben sie nicht. Also, die Kirche ist einfach verbrannt. Bis Heute gibt es keine Antwort, warum und wieso.

Das ist ja spannend. Und dann waren der Pfarrer und die Gemeinde am Boden?

Es war noch ein bisschen anders. Man hat die Rauchfahne bis sonst wohin gesehen. Es ging die Kunde, was ist denn da los? Na, die Kirche brennt. Und das hat bei den Leuten in einem ganz großen Umkreis Entsetzen ausgelöst. Ich selber nahm alles wahr, war aber irgendwie emotionsfrei wie unter Schock. Gedanklich habe ich kapiert, was da geschieht. Die Ermittler wollten mich ständig greifen, um mit mir zu reden und ich sagte nur: „Nein, ich rede nicht mit Ihnen. Jetzt brennt unsere Kirche!“ Die ganzen nächsten Wochen habe ich dann früh zum Fenster herausgeguckt und nach und nach realisiert, es ist ja jetzt alles anders, die Kirche ist ja verbrannt. Wir waren evakuiert. Wir wussten nicht, ob noch Mauerteile vom Kirchturm einstürzen und dieses Haus hier mit schädigen könnten. Ich habe dann einen befreundeten Anwalt aufgesucht und ihn gefragt, was das nun rechtlich bedeute und was jetzt als nächstes käme. Ich wusste einfach nicht, was ich jetzt mit meiner Zeit machen sollte. Ich kam dann wieder her, bin die Treppe hochgegangen, ins Gelände rein und ich habe gesagt: „Ich will das Ding wieder aufbauen!“ Das war eine klare Willensäußerung. Das Fernsehen war da und hat das mit der Kamera eingefangen, sonst wüsste ich gar nicht, dass ich das gesagt habe. Ich habe das auch nicht dem Fernsehen gesagt, das war einfach im Selbstgespräch. Und das ist im MDR gezeigt worden und hat eine Riesenreaktion ausgelöst (gerührt) von Sympathie und Spenden – das war toll!

Was berührt Sie gerade so, wenn Sie daran denken? Wie viele sich innerlich eingeklinkt haben?

Das war so ein Schlüsselmoment. Ich wusste gar nicht, dass mich das heute so berührt, denn ich habe das so oft erzählt. Aber es war schon toll. Ich bin wieder hoch zur Kirche – es hatte noch Brandherde gegeben. Ich hatte dann das Bedürfnis – es musste ja abgesperrt werden – mich in den Tagen danach damit zu befassen. Wir hatten so ein Gitter angebracht. Ich stellte mir eine Bank hin, sperrte hinter mir zu und war alleine in der Kirchenburg. Ich setzte mich so, dass ich die Kirche angesehen habe und habe angefangen, mit Gott zu reden und nachzudenken. Das war so innerhalb der ersten 14 Tage.

Meine erste Frage an Gott war – ich war ja sofort auf Wiederaufbau – ich bin Denkmalschützer und leidenschaftlicher Baumensch: Wenn ich das Ding wieder aufbauen will, was hältst Du denn eigentlich von Denkmalschutz? Muss ich hier irgendeine Kirche aufbauen, die dann in meinen Augen völlig blöde aussieht, nach der Devise – das habe ich Gott auch so direkt gesagt – meine Gemeinde braucht ein neues Zuhause, egal wie es aussieht. Kann ich mit dir rechnen in Sachen Denkmalpflege? Da habe ich eine klare Antwort gekriegt: guck in die Bibel, wie im Alten Testament z.B. Menschen beten, nämlich nach dem Prinzip der Denkmalpflege. Die fangen an und nennen alle Ahnenreihen und alle Generationen – genauso ist Denkmalpflege. Man nimmt den vorhandenen Bestand auf und arbeitet damit. So war die Frage beantwortet: Denkmalpflege, klar! Ich wusste, die neue Kirche wird nicht einfach nur praktisch, sondern wir können richtig mit Leidenschaft bauen. Die zweite Frage war, warum ist sie denn überhaupt abgebrannt? Das war erst die zweite Frage! (lacht) Es war doch alles neu. Wieso brennt die Kirche ab. Was soll denn das? Und das wusste ich auch nicht gleich. Da gab es eine Zwei-Schritt-Antwort. Es bilden sich nicht immer gleich irgendwelche Klarheiten im Kopf oder im Gefühl, bei denen ich hinterher sagen kann, das ist mir jetzt klar für die Zukunft. Die Antwort war eine Eselsbrücke: denk mal nach, es hat mit Denkmalpflege zu tun. Dann fragte ich mich, was hat denn das mit Denkmalpflege zu tun? Da kam mir: es ist die geistige, theologische Traditionsdenkmalpflege, die wir als Kirche betreiben. In den Köpfen, in unserer Lehre, in diesen ganzen Sachen. Und dann kam die klare Antwort: ihr sollt neu anfangen!

Das müssen Sie noch ein bisschen erklären mit der geistig-theologischen Denkmalpflege. Für Sie ist das mittlerweile ein vertrautes Bild. Was verstehen Sie genau darunter?

Das Verharren in all dem geliebten Traditionellen, an den bewährten Wegen, auf den ausgetretenen Pfaden gehen, eine Scheu vor Veränderung und das Grundgefühl, es ist aber schade, dass es so bergab geht, dass es nicht mehr so wie früher ist, dass es überall zurückgeht. Das Lieben des Alten, die alte Vertrautheit… Ich habe ihm gesagt: „Was machen wir denn? Wir singen 500 Jahre alte Lieder, unsere Gottesdienstliturgie ist noch älter, wir praktizieren alles von früher. Wir leben praktisch in einer anderen Zeit. Und das ist eigentlich Denkmalpflege in jeder Lebenszelle. Das ist uns wichtig, das ist uns heilig, wir wollen uns davon ungern verabschieden und denken manchmal sogar, wir können uns gar nicht davon verabschieden. Es geht nicht anders.“ Die Message war: neu anfangen! Alles durchdenken, alles neu planen, zu gucken, was macht Sinn, was vom Alten muss ich fortführen/ soll bleiben und was muss neu werden? Ich habe es verstanden wie einen Auftrag Gottes: „Ich brenne eure Kirche ab!“ Ich habe es sogar soweit getrieben, dass ich zeitweise gesagt habe, es sei ein Denkzettel vom lieben Gott. Nicht eine Bestrafung, sondern ein Auftrag, nachzudenken. Wir hatten schon in unseren Gottesdiensten und im Pfarreileben viele moderne Formen, erneuerte Gottesdienste, neue Lieder, wir sind nie Menschen gewesen, die in besonderer Weise die alte Machart, die alte Praxis in allen Facetten gewollt oder betrieben hätten. Aber jetzt, das ist eine ganz andere Dimension gewesen, wieder neu anzufangen. Diesen Phantasien bin ich dann weiter nachgegangen. Wir haben hier oben schon Jugendlager gehabt, Zeltlager, die Kirchenburg ist ideal geeignet für so eine Arbeit. Wir hatte vieles auch schon neu gemacht. Nun nochmal ein total anderer Weg. Ich habe mir die Frage gestellt: es waren ungefähr 70 Feuerwehrleute, alles junge Leute – was machen die eigentlich sonntags Vormittags? Bei so einem Einsatz oder bei Feuerwehr-Vereinsarbeit bringen die richtig Leistung. Warum kommen die sonntags nicht zum Gottesdienst? Müssen wir uns als Kirche nicht Fragen stellen nach unseren Vollzügen der Gemeindearbeit? Einfach mal über die Gottesdienstzeiten, über unsere Erwartungen nachdenken. Es muss doch möglich sein, etwas Neues zu beginnen, was neue Impulse auslöst. Uns mit der gegebenen Situation neu auseinandersetzen. In diesen 14 Tagen ist dann letztlich das Grundkonzept unserer heutigen Kirchenburg in meinem Kopf entstanden. Nach etwa einer Woche kam der Architekt, Karsten Merkel, aus Meiningen, mit dem hatte ich nämlich die erste Kirchenburgsanierung durchgeführt. Komm mit hoch in die Kirchenburg. Wir schließen hinter uns zu. Komm mit auf meine Bank und wir reden. Ich habe ihm alles erzählt, was ich vorhabe, und wir haben festgestellt, wir ziehen an einem Strang. Wir sind in der Lage, in diese Richtung zu arbeiten. Sehr bald bekam ich dann die Zusage von der Versicherung, sie werde zahlen. Damit war der Wiederaufbau in realisierbare Nähe gerückt.

Die Begegnung mit der Kirche, mit dem Kircheninneren, das war nochmal sehr interessant. Unsere Kirche war ja voller alter verkohlter Balken. Da stellt man sich die Frage: wie kann denn/ wie soll denn die neue Kirche innen aussehen? Das Außengelände haben wir uns schon vorstellen können. Aber innen? Man denkt natürlich am Anfang an eine Kopie der alten Kirche, weil man glaubt, das der Denkmalpflege schuldig zu sein. Wir haben dann diese ganzen Brandbalken rausgeholt und haben eine neue Kirche entdeckt! Wir haben plötzlich gesehen, in dieser Kirche ist ja viel mehr Platz. Da waren vorher zwei Emporen drin, es war eng. Diese Emporen haben das Licht der Fenster abgeschattet. Wir haben unsere Kirche mit anderen Augen gesehen. Nachdem die Balken heraußen waren, haben wir die Kirche von 1580 gesehen – ohne Emporen. Der Spitzbogen war hinter den Emporen versteckt, den hatte vorher keiner Entdeckt, die Arbeitsbreite der Kirche war durch die beiden Emporen so eingeschränkt. Wir konnten bestimmte Veranstaltungen nicht durchführen. Mit der Entdeckung dieser neuen Kirche war ein neues Raumgefühl gefunden. Vorher war es eine enge Dorfkirche und plötzlich hatte ich das Gefühl, wir sind jetzt mehr hingerückt zu einem sakralen Raum. Da habe ich die Gemeinde hereinbestellt und gesagt: wenn wir die neue Kirche aufbauen, seid ihr eingeladen dabei zu sein. Eines sage ich euch gleich: die neue Kirche wird nicht auf dem Fernsehsofa aufgebaut. Untersteht euch zuhause auf dem Fernsehsofa sitzender Weise irgendeine Äußerung zu machen, wie unsere neue Kirche auszusehen hat. Oder was wir falsch machen. Hier hat nur ein Rederecht, wer selber in die Kirche kommt und sich das anguckt und damit in die Lage versetzt wird, urteilen zu können über die neu entstehende Kirche. Und der kann auch richtig mit dabei sein. Dann habe ich sie gefragt: was wollt ihr für eine Kirche? Wollt ihr die alten Emporen wieder drin haben oder wie gefällt euch der Raum? Da haben viele gesagt, die Kirche wieder so zuzubauen das wollen wir eigentlich nicht. Stellt euch mal in die Mitte, habe ich dann gesagt – es waren ungefähr 300 Leute da – , welche Richtung gefällt euch denn besser. Wir haben dieses gotische Fenster im Westen und im Osten das Fenster, wo heute das Kreuz drin ist. Das war damals ja noch zugemauert und sah ziemlich öde aus. Und dieses gotische Fenster mit den angekohlten Butzenscheiben und diesem Spitzbogen, das sah total schön aus. Wir haben gemerkt, dass die Blickrichtung in Richtung Westen toll ist und hätten am liebsten die Kirche in Richtung Westen gebaut. Aber Kirchen sind ja nun mal alle geostet und jetzt zu sagen, wir bauen die Kirche grundsätzlich andersherum, so weit wollten wir nicht gehen. So haben wir gesagt, wir wollen diesen Blick auch, also bauen wir eine bipolare Kirche. Wir werden diese Kirche in Richtung Osten betreiben, wir werden diese Kirche in Richtung Westen betreiben, wir werden sie im Querformat betreiben, wir werden diese Kirche mit dem vollen Spektrum ihrer Möglichkeiten betreiben. Die nächste Frage war, wie wir das mit den Sitzmöbeln machen wollen. Stühle wollten wir nicht. Der heutige Kirchenstuhl im 90 Grad Winkel, mit hoher Lehne, Sitzfläche und Rücken schilfbespannt – furchtbar oder Stahlrohrstühle – auch furchtbar. Wir wollen die alte Kirchenbank, aber um die Flexibilität zu haben, fertigen wir sie in Sitzgruppen. Wir dachten erst an 2er und 3er Sitzgruppen und sind mal gespannt – Herausforderung! – wer setzt sich denn eigentlich bei wem mit auf die Couch? Ein völlig neues Verhalten in der Gemeinde. Schließlich sind wir doch bei Zweisitzern geblieben. Das war einfach günstiger. Die können wir drehen und tragen wie wir wollen, die sind stapelbar (haben wir selbst entwickelt) und haben damit auch die Möglichkeit, einer richtig freien Kirche. Ich habe da im Blick z. B. ein Wandelkonzert, bei dem man die Orgel einmal von verschiedenen Orten im Raum aus anhört, denn es ist interessant, wie unterschiedlich sich die Orgel da anhört. Also, volle Flexibilität, Richtung Osten, Westen, umstellbar, verräumbar, multifunktional. Damals hatte ich noch gedacht, uns ist so viel Kulturgut verbrannt, ich hätte mir gerne auch Kunstschätze hereingeholt, von alten Braunkohletagebaukirchen, die nicht mehr existent sind und die bei uns ein neues Zuhause gefunden hätten, so nach der Devise: uns ist Kunstgut verbrannt, jetzt könnten wir verwaistem Kunstgut, ein neues Zuhause bieten. Es gab aber nichts, was uns gefallen hat. Wir wurden also aus mehreren Richtungen dahin gestupst, die Kirche neu zu denken und zu entwickeln. Ich habe gesagt, die Kirche innen muss die Entsprechung sein zu außen. Außen waren wir schon bei Kinder- und Jugendkirchenburg, Erlebniskirchenburg – das war alles schon da, diese Gedanken mit Kletterwand. Und dazu muss unser Kircheninneres passen. Solche Sachen sieht man nicht als Kirchendenkmalpfleger von Anfang an, das ist ein gedanklicher Prozess. Und es ist auch ein schmerzhafter Prozess, sich zu verabschieden von Sachen, die man ästhetisch schön gefunden hat. Wir waren stolz auf unser altes Kircheninneres. Das saß auch bei den Leuten so tief: unsere schöne Kirche, die so toll geworden war… Von Architektenseite wird ja heute gern Bauhaus gebaut. Beim Architektenwettbewerb war kein Ergebnis dabei, das uns zugesagt hat. Der Rauch war hier noch nicht abgezogen, da bekam ich von überall her Post. Manche zeigten schon, was sie tolles gebaut haben, womit die gewonnen haben – fast alles Stahl und Glas. Wenn du nicht aufpasst, ziehen die Unternehmen mit Stahl und Glas ein. Auch unsere kirchliche Bauleitung brachte Entwürfe mit. Als ich diese Zeichnungen sah, war das für mich noch schlimmer als abgebrannt. Etwas bauen zu sollen, wo mein ganzes Gefühl nein sagt, das kann ich nicht. Dann müsste ich gehen. Wir haben eine neue Form des Bauens gefunden, das haben die Architekten sehr wohl wahrgenommen. Wir haben aus dem Gemeindekirchenrat Vorgaben gemacht: es sollte eine Burgkirche werden, aus Stein und Holz, vom Stil her etwas archaisch- rustikal, keine Glas-und-Stahl-Kirche. Mit wurde klar, wenn wir ein Konzept für Decke und Fußboden haben, ist das schon so viel Vorgabe, dass wir das Innere auch finden. Vom Bauhaus geprägt planen Architekten oft gerade Linien. Ich möchte deren Konzepte nicht in der Öffentlichkeit Decke aus ungesäumten Brettern madig machen – Metallgeflechtdecke, goldbepuderte Fensterlaibungen, Polstersitze, solche Sachen. Uns ist klar geworden, es muss unsere Kirche sein, mit der wir uns identifizieren. Wir kamen an den Punkt, an dem die Architekten immer noch gerade Linien wollten. Da habe ich gesagt: „Jetzt ist Schluss! Wir bauen bitte weiter ohne Zirkel und ohne Lineal!“ Das war die Initialzündung, noch andere Wege zu gehen. Die Innenarchitekten haben diese Idee aufgenommen und brachten beim nächsten Mal die Idee von ungesäumten Brettern mit. Damit bekommt man mehr Holzgefühl, da wird es wieder archaischer, rustikaler. Diese Linie haben wir dann durchgezogen in den Bänken, an der Decke, in der Kanzel. In den Steinfußboden haben wir den archäologischen Befund der letzten Jahrhunderte eingraviert. Da kann man mit Kindern auf archäologische Spurensuche gehen. Alles in allem kommt es so zu einer Individualisierung unserer eigenen Kirche. Die Kirche wird so zu einem Unikat. Sie folgt so keiner Bautradition, sondern sie versucht so, Kirche für die Menschen hier zu sein, ein breites Spektrum zu bieten und Kirche innerhalb unserer alten Mauern zu sein. Es gab auch eine ganze Reihe von Zwistigkeiten mit der oberen Denkmalbehörde. Die wollte, dass wir eine weiße Fassade machen, einen Putz drauf, angemalte Werksteinecken auf den Putz gemalt. Da haben wir uns durchgesetzt. Das ging bis vors Landesverwaltungsamt. Damit konnten wir die Idee von einer Biotop-Kirche zu Ende bringen, weil wir überall in der Kirche Löcher und Lücken haben, wo unsere Tiere drin wohnen. Bei der Biotopkirche geht es um Bewahrung der Schöpfung und es ist eine Einladung insbesondere an die Kinder und Leute, die so etwas mögen, hier einfach das zu lieben. Und sich hier aufzuhalten. Die Vogelarten, Fledermäuse, ein Bienenvolk und auch die anderen Sachen, dass wir einen Backofen im Außenbereich eingesetzt haben, die Kletterwand an der Steinfassade, alles zusammen sollte das hier zu einem Platz werden lassen, zu dem die Leute gerne hingehen, dass hier Leben hinkommt, dass es nicht nur eine sakrale Betätigungsstätte ist, sondern ein Ort, wo man lebt und sich trifft.

Begegnung ist da für mich ein Zentralbegriff. Der liebe Gott will den Menschen begegnen. Einander begegnen ist für mich praktisch umgesetzte Liebe, dass man Begegnung zulässt, herstellt, ermöglicht, sich gegenseitig einlädt. Dazu kam noch der Aspekt: ich möchte mit jedem Euro, der durch die Bücher hier geht, Freude auslösen. Es soll Freude machen, was wir hier machen. So ist auch unser Geläut entstanden. Wenn man vier Glocken gießt, bekommt jede Glocke ja einen Namen, eine Widmung, eine Aufgabe. So sollten Vorschläge entwickelt werden. Der Vorschlag der von mir kam, war Glaube – Liebe – Hoffnung. Das habe ich extra so gesagt, damit sie mich fragen im Kreiskirchenamt: „Herr Pfarrer, Sie haben doch vier Glocken! Wie soll ich denn das verstehen?“ Diese Frage wollte ich provozieren und habe geantwortet: „Wir hängen zwischen diese Glocken eine, die heißt Freude. Die soll immer mit den anderen zusammen läuten. Weil wir finden, Glaube, Liebe und Hoffnung sind wunderbar, aber die Freude ist das Schmieröl für alle Dinge. Die Freude, die Leidenschaft, die Begeisterung, der Enthusiasmus, das wollen wir hier fördern. Und so wie ich das hier erlebe, sind das alles Enthusiasten hier. Wir haben bei der Läuteordnung darauf geachtet, dass bei den Läuteprogrammen in den allermeisten Fällen die Freude dazwischen läutet.

Wissen die Leute, wie die „Freude“ klingt?

Ja. Das ist die kleine Glocke. Bei der Glockenweihe haben wir auch nicht die Ober-, Ober-, Oberkirchenräte geholt, dass die unsere Glocken weihen, um uns geehrt zu fühlen, weil mal jemand von ganz oben kommt. Wir haben gesagt, das machen wir selber. Den „Glauben“ hat ein Gemeindekirchenrat geweiht, die „Liebe“ unsere Diakonie, die „Hoffnung“ eine Konfirmandin und die „Freude“ hat die Feuerwehr geweiht. Das war sehr nett (schmunzelt!). Freude ist uns wichtig, Leben, Lebendigkeit, das Leben in allen Facetten. Wir glauben dass das heute einfach logisch ist. Wir wollen keinen sauertöpfischen christlichen Glauben, sondern siedeln den Glauben mitten im Leben an. Das ist dieses ganze Konzept. Wenn man erwartet, dass die Leute am Sonntag in den Gottesdienst gehen, und man permanent sagt, das sei die Hauptversammlung der Kirchgemeinde – das Leben der Leute findet anders statt. Die arbeiten von Montag bis Freitag, Samstag müssen sie Papiere bearbeiten oder Sachen nachholen, die sie die Woche über nicht geschafft haben, wollen was erleben und am Sonntag wollen sie vielleicht als Familie mal zusammensitzen und Frühstücken. Und von daher muss man in seinen Erwartungen und Vorstellungen gucken, wie man Kirche gestaltet, dass das nicht ständig kollidiert und nicht ständig glaubt, die Leute abmahnen zu müssen, dass sie sonntags nicht in die Kirche gehen. Wir müssen als Kirchgemeinde gucken, wie wir Sachen hinkriegen, wo Leute auf andere Art und Weise auch dabei sein können, wo sie andere Menschen und Mitchristen erleben und mit ihnen Zeit verbringen können. Die Menschen gehen nach ihren Lebensmöglichkeiten. Je klarer und realistischer wir als Kirche mit unserem Menschenbild liegen, umso eher finden wir auch Möglichkeiten, andere Formen der Begegnung, können umdenken und vieles neu machen. Wir haben eine große Kinoleinwand in der Kirche. Wir wollen auch Filme zeigen. Auch das ist eine Sache: wir wollen die einladen, hier hoch zu kommen in die Kirchenburg, Wasser und eine Toilette anbieten, evtl. eine E-Bike-Lademöglichkeit, dann kriegt man schon mal viele Radfahrer. Man kann auf Radfahrer einmal antworten, indem man sein eigenes, was man hat, gut vorstellt. Man kann auch mit Wanderausstellungen u.a. Leute ansprechen, ihnen Stille bieten, das Freigelände um die Kirche nutzen. Die heutigen Bedingungen, die wir haben, da oben Lager anzubieten, wir haben acht Kletterpfade, ein eigenes Kletterteam in Kooperation mit Sülzfeld, die ja im Kirchturm klettern, haben einen Kletterverein, der Kontakt auch zum Alpenverein pflegt. Aktuell haben wir einen Kirchenburgverein gegründet. Wenn man hier oben etwas macht, ist das für Kinder ideal. In der schönen Jahreszeit kann man sich Boote ausleihen und auf der Werra paddeln. Man kann hier richtig coole Sachen machen und wir wären verrückt, wenn wir diese Möglichkeiten nicht nutzen würden. Die Kirchenburg ist so ein riesiges Geschenk, sie nicht richtig zu nutzen wäre ja eine Unterlassungssünde. Dazu gehört natürlich auch persönliche Lebensfreude und Leidenschaft. Wenn einem selber vieles zu langweilig ist, zu öde und zu steif, zu gesetzlich und zu abmahnerisch, dann entwickelt man einfach auch ganz andere Konzepte und geht andere Wege. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn ich sage, das machen wir mit 100%iger Übereinstimmung als Kirchgemeinde, als Gemeindekirchenrat mindestens. Wir ziehen alle an einem Strang und es gelingt uns auch, aus anderen Kirchgemeinden Leute zu gewinnen, die mitmachen. Die treten teilweise aus den eigenen Kirchgemeinde aus.

Wie ist es Ihnen denn gelungen, dass das Projekt keine Privatveranstaltung von Pfr. Berlepsch wird, sondern ein Vorgang, in den sich die ganze Kirchgemeinde nach und nach mit eingeschwungen hat, so dass es zu einem Wir- Projekt geworden ist?

Ich kann Leute begeistern. Ich bin so ein Typ, wenn mir etwas gefällt, kann ich das rüberbringen und Leute anstecken. Es ist eine Übertragung von Begeisterung. Die Gemeinde hat schon die erste Kirche und das Konzept, das mit mir und meiner Frau hierher kam, gerne übernommen. Dann bin ich halt auch Baumensch aus Leidenschaft. Ich nehme die Leute aber auch gut wahr, wenn sie etwas anderes denken. Da will ich niemanden tot machen. Alle konnten immer real mitbestimmen. Wenn Leute etwas anders sehen, dann reden wir darüber und suchen nach anderen Lösungen. Es ist nicht so, dass ich mich hier durchsetzen müsste. Wir setzen die Ideen von dem um, der die besten hat. Blick ins Kirchenschiff nach Osten Gab oder gibt es auch Kritiker, die sich schwertun, Ihrem Konzept zu folgen oder die sich gar abgehängt fühlen?

Es gibt ein paar Leute, die die Emporen vermisst haben. Es war ja traditionell so, dass die Frauen unten saßen und die Männer in den Rängen. Die kritischen Stimmen sind wirklich außerordentlich schwach. Was wir hier machen, wird von jedem Walldorfer voll vertreten. Wenn sie auf die Straße gehen, die Leute sind stolz auf ihre Kirche. Es ist gelungen, hier etwas zu entwerfen, was den Leuten gefällt. Die Identifikation ist riesig. Auch dass hier Sachen neu werden. Beim letzten Seniorennachmittag habe ich den Leuten nochmal nacherklärt, wie unser Verein zusammengesetzt ist und warum das nicht alles Kirchenleute sind, warum da auch Leute von außerhalb dabei sind. Unsere Perspektive als Kirchgemeinde wäre gewesen, es wird von Jahr zu Jahr weniger, die Jugend geht gar nicht mehr hin, die alten Leute nehmen zwar am Leben teil, es geht aber zahlenmäßig runter und auf diejenigen, die die Stellung halten, kommen immer mehr Aufgaben zu. Wir müssen ein völlig anderes Konzept betreiben und müssen alle mit ins Boot holen. Und wenn wir so viele Millionen verbauen, haben wir auch die Pflicht, hier einen öffentlichen Platz zu bieten. Und es ist eine riesige Chance! Wenn jemand heute Gott begegnen will, dann ist eigentlich die beste Einladung, wenn man Zeit miteinander verbringt. Bei der Vereinsgründung bin ich zurückgegangen auf die Stelle mit Jakob und der Himmelsleiter, auf den heiligen Ort. Ich habe den Vereinsmitgliedern gesagt, ihr werdet in eurer Vereinsarbeit hier, indem ihr hier arbeitet, Veränderungen in eurem Leben erfahren und spüren und werdet erstaunt sein: dies ist ein heiliger Ort! Das ist eine Pforte zum Himmel, die lässt euch nicht bei dem, wer oder was ihr heute seid. Ihr kommt in eine ganz andere Dynamik hinein. Und das ist so. Das ist ein besonderer Ort. Wir gehen damit jetzt so um, indem wir niedrigschwellig arbeiten, dass alle dazukommen. Wir haben Kircheneintritte – ich habe richtig viel Arbeit bis ich in Ruhestand gehe. Wir haben Leute aus Meiningen, Metzels, Wasungen gewonnen, die auch direkt in den Verein eingetreten sind. Es gab 2018 eine Woche, in der ich 13 Kinder getauft habe. In dieser Woche hatten wir nacheinander in verschiedenen Veranstaltungen etwa 1000 Leute in der Kirche. Jetzt haben wir zwei Orgelkonzerte, die sind ausverkauft. Das wird richtig cool. Da machen wir moderne Musik mit der Orgel. Ich freue mich richtig drauf. Kulturkirche wollen wir auch werden, ein Platz, wo etwas stattfindet. Es ist missionarisch, was Die Lichtatmosphäre hüllt die Orgel in mystischen Glanz wir machen. Wir sind missionarisch. Aber Mission geschieht unterbewusst.

Wenn Sie das, was hier in Walldorf passiert ist, sehen und blicken auf die aktuelle Situation der Kirche, welche Schlüsse ziehen Sie persönlich?

Einen Begriff habe ich noch nicht genannt: Kirche der Zukunft. Zukunftsfähige Kirche. Baubegleitend ist der Begriff in den letzten Jahren eines meiner großen Hauptworte geworden. Am Anfang habe ich bei Facebook gelesen: jetzt wollen die die Kirche wieder aufbauen. Sollte man das Geld nicht lieber den Armen geben oder etwas Soziales daraus machen? Das kostet doch jede Menge Geld. Ich habe darauf geantwortet, wir brauchen unsere Kirche auch! Diese Kirche hat eine wichtige Funktion. Der Begriff Zukunftsfähigkeit… Die Evangelische Kirche befasst sich aktuell sehr mit dem Niedergang der Volkskirche, man spricht von den schwindenden Zahlen und wie man damit umgehen solle. Zukunftsfähig heißt, ich muss herausfinden, wie Menschen heute leben und wie werden sie vielleicht in 20 Jahren ticken? Oder was ist ihnen heute wichtig? Und dann Kirche von morgen bauen. Die heutigen Entwicklungen hochrechnen und gucken, wie ich bauen muss, um als Kirche dem gewachsen zu sein, der Art von Menschen mit Religiosität, mit Leben umzugehen, schwindenden Zahlen gerecht zu werden. Diese Gedanken haben wir bewegt und sind zu dem Schluss gekommen, es muss einfach mit Leben zu tun haben, es muss mit dem Alltag der Menschen zu tun haben. Wir müssen so bauen, dass es so viele Facetten kriegt, dass es den Leuten Freude macht, dass sie gerne dahin gehen und dort Leben praktizieren können. Wir sind ein Referenzobjekt geworden innerhalb der Landeskirche und für neues kirchliches Denken und einen neuen Umgang. Dafür, wie man heute baut, ist meiner Meinung nach grundlegend das Gemeindeverständnis, das Menschenbild und das Gottesbild. Ohne ein neu geprüftes Gemeinde-, Menschen- und Gottesbild könnten wir das nicht tun, was wir machen. Die Grundvoraussetzung ist geistliches Denken.

Die Leute wittern, dass hier etwas besonderes passiert ist. Der Kern scheint mir Ihr Hören auf das zu sein, was der liebe Gott auf Ihre Fragen geantwortet hat bzw. was er von Ihnen will. Und es scheint mir ein exemplarischer Vorgang zu sein, der sich an Ihrer Person festmacht. Sie strecken sich nach oben aus und machen die Führung durch Gott für die Menschen durchsichtig. Sie haben es eine „individualisierte Kirche“ genannt.

Individualisierte Kirche meinte ich vor allem baulich.

Die Individualität muss jemand dem Bau und dem lieben Gott ablauschen. Dafür braucht es eine Wahrnehmung. Mit dem Gebäude auf Augenhöhe gehen wie mit den Menschen und dem lieben Gott. Das kann man nicht so ohne weiteres kopieren.

In Thüringen gibt es im September einen Kirchenbautag. Ich kriege Einladungen, dort Workshops zu leiten. Aber was will ich da? Was will ich in Erfurt auf dem Gartenschaugelände einen Workshop machen? Wir können ihnen hier zeigen, was hier passiert ist, wie wir denken und was wir machen. Ich dachte, das sei eine positiv formulierte Absage meinerseits. Die Antwort war: wir kommen! Wir machen eine Exkursion und kommen mit einem Bus zu Ihnen und sehen uns an, was Sie da machen. Und das Schöne ist, so wie ich heute Ihnen gegenüber spreche, so gibt es mittlerweile mindestens ein Dutzend von Einheimischen hier, die genauso reden würden. Das ist bei den Leuten angekommen. Auch bei den alten. Die haben es alle persönlich auf ihr Schild geschrieben und haben es begriffen und wollen das. Dole mit Zweig im Schnabel. Am zweiten Tag nach dem Brand sah Pfr. von Berlepsch, wie eine Dole mit Zweig im Schnabel sich daran machte, ihr Nest im Kirchturm wieder aufzubauen. Sie ist zum Symboltier für den Wiederaufbau geworden. Hat dieser Vorgang Ihren Glauben und Ihre Gottesbeziehung verändert?

Es hat mich erheblich verändert! Seit dem Kirchenbrand habe ich das Gefühl, das alles hier ist von Gott gesteuert. Ich bin beauftragt, den Platz auszufüllen, den ich in diesem ganzen Geschehen habe. Was entsteht, das ganze Positive, das kann man als Mensch nicht machen. Das hat alles der liebe Gott gemacht. Früher habe ich mir viele Sachen aus den Fingern gesaugt und habe wie beim Schach so und so viele Züge vorausgedacht, um Sachen planen zu können. Heute habe ich gar nicht mehr die Zeit dazu. Vielmehr beobachte ich einen Automatismus, dass ich selber neben mir stehe und staune, dass da Sachen geschehen wie in der dritten Person. Sowas habe ich früher nur in Büchern gelesen. Dass das mal auf mich zukommt, dass man so viel Führung und Fügung erlebt, hätte ich nie glauben können. Ich erzähle ständig den Leuten davon, was der liebe Gott alles mit mir gemacht hat. Wo er Leute hergebracht hat, zu was für Gesprächen und wo plötzlich Leute gekommen sind, die Verkündigungsengel mitmachen und sich einbringen wollten. Ich bin an dem, was hier geschieht, eigentlich völlig unschuldig. Das hat der liebe Gott gemacht. Das ist ein Projekt vom lieben Gott – das ist meine tiefste Überzeugung. Er hat mich jahrelang vorbereitet, dass ich in bestimmten Bereichen die Sachen einigermaßen vernünftig begleiten kann. Das ist ein Projekt vom lieben Gott, den Kirchenbrand eingeschlossen. Logischerweise hätte es nicht brennen dürfen. Ich kann nicht sagen, der liebe Gott hat unsere Kirche verbrannt. Dafür kostete es viel zu viel Geld und es ist viel zu viel Kunstgut verbrannt. Der liebe Gott wollte, dass hier etwas Neues entsteht – vor aller Augen mit so einer Öffentlichkeitswirkung. Wir haben richtig große Öffentlichkeit.

Im Mai gehe ich in Ruhestand. Dann werde ich nicht mehr so viel Verantwortung auf meinen Schultern haben. Ich schlafe öfter wirklich schlecht, denn ich habe echte Themen zu bearbeiten, die einen richtig angreifen. Die ganze Geschichte ist auch richtig anstrengend. Ich persönlich bin da hingekommen, dass ich sage, ich mache alles mit, was der liebe Gott für mich vorgesehen hat. Und ich gebe alles aus der Hand, wenn es der liebe Gott will. Da habe ich kein Problem damit. Früher hatte ich immer bestimmte Vorstellungen, was mir wichtig ist, was ich möchte, heute sage ich, das ist alles so vom lieben Gott gesteuert und wenn der was steuert, das ist einfach so genial. Für mich ist das wie ein Krimi. ich bin richtig scharf darauf, dass der liebe Gott die Sache als Chefsache behandelt. Hätte ich mir hier irgendetwas aus den Fingern saugen müssen, das hätte keinerlei Chance gehabt.

Es ist fast so ein bisschen wie der brennende Dornbusch hier, der brennt und doch nicht verbrennt. Und aus dem Gott selbst spricht.

Ja. Das hier ist echt eine Ansprache. Ich lade alle ein. Jeder, der eine Idee bringt, ist gut. Wir haben diese und jene Möglichkeiten, komm, fangen wir an! Arbeitszeit- und kräftemäßig verhalte ich mich wie ein Irrer, weil ich überhaupt keine persönlichen Zeiten mehr für mich nehme. Aber ich habe ja am 31. Mai meinen letzten Arbeitstag, bis dahin ist mein Privatleben hintangestellt. Dann bin ich Rentner. Ich kann es mir leisten, weil es irgendwann ein Ende hat. Diese ganze Geschichte, das ist ein Plan Gottes und ich bin ihm dankbar, dass ich dabei sein darf. Es ist sein Projekt.

Was macht das mit Ihnen im Blick auf Ihren bevorstehenden Ruhestand? Ist das so ein bisschen wie bei Mose, der sein Volk durch die Zeit führt, das gelobte Land selbst aber nie erreicht?

Den Gedanken hatte ich auch schon gehabt. Es gibt manchmal Situationen, in denen ich das bedauere, aber ich habe gelernt, dass Gott sich in seinem Plan was dabei gedacht hat. Und meine Grundstimmung ist nicht Eitelkeit oder Stolz. Meine Grundstimmung ist einfach nur Dankbarkeit und Freude. Für mich ist es eine Frage des Anstandes und der Korrektheit gewesen, Walldorf nicht fluchtartig zu verlassen, als die Kirche abgebrannt ist, sondern ich habe mich verpflichtet gefühlt, hier erst dann gehen zu dürfen, wenn das wieder gerichtet ist. Schauen wir mal, was in Zukunft kommt. Über diesen Kirchenbau kam es zur Trennung von meiner Frau. Mit ihr zusammen habe ich hier schöne Arbeit mit Kindern aufbauen können, sie konnte sich diese ganze Sache mit einem erneuten Wiederaufbau nicht vorstellen. Ich habe parallel dazu in Dresden einen tollen Bauernhof ausgebaut, ein Denkmalprojekt mit Laubengang und Fachwerk. Dort hätte ich in den Ruhestand gehen können. Ich konnte aber hier nicht weg. Meine Berufung, mein Platz, mein Weg war ein anderer. Der liebe Gott hat mir gesagt, du musst jetzt aus deiner Ehe raus. Das klingt für manche vielleicht unverständlich. Gerade haben wir einen Verein gegründet. Damit will ich erreichen, dass die als Verein die Kirchenburg betreiben. Das soll nicht der Pfarrer machen. Sein Begabungsspektrum reicht nicht hin, sein Zeitplan reicht nicht hin, er hat auch noch andere Aufgaben. Im Gemeindekirchenrat sind nicht eigens dafür ausgesuchte Leute, sondern er ist ein gewähltes Gremium, was oftmals traditionell gewählt wird, was mit Verwaltung überlastet ist. Wir brauchen ein neues, ein anderes Gremium. Dem wollte ich eine rechtliche Komponente geben und deswegen diese Vereinsgründung. Ich möchte mit diesem Gremium auch die Kirchenzugehörigkeit umschiffen. In diesem Verein sind eine ganze Reihe Leute dabei, die nicht der Kirche angehören, auch Leute aus anderen Orten. Damit habe ich ein erweitertes Gremium und ganz andere Möglichkeiten. Ende Mai, guck ich mal, was der liebe Gott mit mir vorhat, ob ich mich noch hier – vielleicht in der Übergangszeit als Pfarrer oder so beteiligen soll. Ich bin bewusst kein Vereinsmitglied geworden, um meinen Nachfolger nicht zu ärgern oder zu nerven. Wenn die Situation sich so zeigen sollte, dass sie mit mir weiter zusammenarbeiten wollen – es sagt mir jeder Walldorfer, ich solle nicht gehen, ich solle hier bleiben – und mein Nachfolger das auch wollte, dann können sie mir das immer noch persönlich sagen und das mit der Superintendentin absprechen, dass der Gemeindekirchenrat einen Beschluss fasst. Ich möchte wirklich meinen Platz räumen. Sie sollen wirklich ohne meine Präsenz in das gelobte Land einziehen, um wieder auf den Faden zurück zu kommen. Es geht mir nicht um mich. Früher hatte ich manchmal das Gefühl, ich hätte etwas verpasst oder es würde noch etwas fehlen. Heute bin ich einfach nur dankbar, dass diese ganze Geschichte, wie sie gelaufen ist, so gut gegangen ist, dass wir vieles erreicht haben. Ich melde keine Ansprüche an. Pfarrer Heinrich Freiherr von Berlepsch vor dem Haupteingang Sie sind also einigermaßen gelassen im Blick auf dieses Datum.

Meine Gelassenheit hört dort auf, wo ich mir klar mache, dass ich finanziell noch nicht so genau weiß, wie ich meinen Ruhestand bestreiten kann. Ich habe etliche Themen, die mich umtreiben, aber ich habe gar keine andere Chance, als das dem lieben Gott zu überlassen. Das ist alles so von ihm gesteuert worden in den letzten Jahren, ich kann es mir gar nicht mehr anders denken. Ich benutze gern den Begriff Herausforderung. Das ist mein Zukunftsbild, meine positive Sicht auf die Zukunft, trotz Klimakatastrophe, ich möchte alles positiv sehen. Es gibt eine Entwicklung der Menschheit, des Wissens, der Wissenschaft, der Erkenntnis, ich bin dankbar für Entwicklung trotz aller Herausforderungen, die aus allen Ecken und Ende herausgeschrien werden. Mit diesem Zukunftsverständnis möchte ich sagen, ich möchte mich den Themen stellen, den Themen der Zeit stellen, damit umgehen, Lösungen finden, einfach aus dem Verständnis heraus, dass etwas Positives geschieht. Ich möchte da Entwicklungshelfer sein. Da entstehen neue Dinge. Ich habe Freude an den Menschen und der Zukunftsentwicklung, an den Prozessen. Mich interessiert Wissenschaft, Psychologisches, Zukunft, von daher müssen wir diesem Pferd Kirche, das sich so dahinschleppt, wieder Tempo geben. Die Menschen, die Gemeindeglieder, brauchen eine positive Sicht. Vor vielen Jahren habe ich mal eine Gemeindekirchenratsrüstzeit gemacht. Die war für mich auch so ein Schlüsselerlebnis. Ich hatte im Gremium immer so ein Gemecker: ja wo isse denn, die Jugend? Ich dachte bei mir, euch werde ich‘s zeigen! Ich habe die Leute in Arbeitsgruppen geschickt und ließ sie den Glauben ihrer Eltern skizzieren. Wie sie geglaubt haben, wie sie sich traditionell in der Kirche verhalten haben. Dann waren sie daran, ihren eigenen Glauben darzustellen, die Unterschiede ihres Glaubens zu dem ihrer Eltern herauszufinden, auch in Glaubensvollzügen, Kirchgang usw. Und dann kam die Gretchenfrage: sie sollten den Glauben und die Glaubensvollzüge ihrer Kinder darstellen. Damit kamen sie aus der Nummer heraus, immer von anderen erwarten zu wollen, dass die sonntags in die Kirche gehen müssen. Sie waren in ihrer eigenen Familie angekommen. Sie mussten es nicht erklären, aber sie haben wahrgenommen, dass sie selber sich schon weg entwickelt haben im Hinblick auf ihre Eltern in den Traditionen. Und bei den Kindern lassen sie sowieso alles durchgehen. Und wenn die nie in die Kirche gehen, sich dann von denen zu distanzieren oder sie deswegen abzumahnen, kommt nicht in Frage. Sie haben dann gefragt, ob das böse sei. Ist das böse, wenn Menschen sich so entwickeln? Kann man die dann anzählen, sie abmahnen? Oder ist das nicht ein natürlicher Prozess, eine Entwicklung über Generationen hinweg, dass wir heute Leben anders leben und auch in vielen Fragen umgedacht haben. Wenn das die Realität ist, dann müssen wir als Kirchgemeinde, als Kirche, als Gläubige, als Familien zum Donnerwetter nochmal auf diese Realität einstellen. Dann gilt es ein Leben zu entwickeln, das die nachrückenden Personen herabwürdigt, die zu passen. Wenn man die ganze Fenster und Türe in der Nordfassade. Die sichtbaren Balken sind Abgüsse der Brandbalken nach dem Kirchenbrand. Generationen nicht zu kritisieren sind. Es muss geistige Entwicklung betrachtet und das Verhältnis zur Religion und den Umgang mit dieser Patchwork-Religiosität – jeder sucht sich etwas raus, daher und dorther – aber macht das nicht ein Stück weit jeder von uns heute? Die Wahrheit der Kirche, die Dogmatik, es ist doch anders Wer mit Gott geht und Gott erlebt, macht andere Erfahrungen. Er wird unter Umständen von Sachen, die er für gesichert gehalten hat, weggeführt und wird feststellen, dass er mit anderen Verhältnissen leben kann. Die Leute entwickeln die Religion und die Dogmatik weiter. Wenn man in der Seelsorge den Leuten zuhört, z.B. bei einem Sterbefall, was die vom Himmel erzählen. Viele reden und denken religiös. Wenn man da zuhört, folgen sie einer natürlichen Überzeugung und erleben sich auch geführt. Das muss man wahrnehmen. Und auch was in den Alltag der Leute passt. Da liegen wir mit den alten Begrifflichkeiten und den Dogmen daneben. Da holen die sich lieber aus Frauenzeitschriften oder sonst woher ihre Psychoratschläge. Wir müssen da aufpassen, dass wir auf dem Laufenden bleiben.

Und da gibt es ja auch eine echte Suchbewegung. Die Leute suchen ja sehr intensiv nach Gehaltvollem, Wertvollem, Sinngebendem für sich selber. Sie suchen nach Spiritualität, nach Führung. Vielleicht suchen sie schon längst auch nach Menschen, die sie zu Gott führen, nur sind die leider oft nicht glaubwürdig. Oder sie stehen sich mit ihrem Ornat oder der Ästhetik, mit der sie es tun, sich selbst im Weg.

Die Hauptgründe aus der Kirche auszutreten sind, die Kirchensteuer zu sparen oder ich habe überhaupt keine Beziehung zur Kirche, sie ist mir einfach fremd. Man ist jahrelang nicht hingegangen, man hat niemanden getroffen, der das in seiner Persönlichkeit erlebbar macht oder sie begegnen Menschen, die alles so darstellen, dass man es nicht nachvollziehen kann. Warum soll ich Geld bezahlen für etwas, das mir fremd geworden ist? Man hat ja so sein Menschenbild, wie man denkt, dass Menschen ticken, aber begriffen davon, wie Menschen sind, habe ich sehr viel in der Schule. Bei Schülern und Kindern hört und sieht man, womit sie sich tagtäglich befassen, was in den Familien los ist, wie sie mit den Medien umgehen, was die für eine Rolle spielen. Und was die eigentlichen Lebensvollzüge sind. Da kommt Kirche vielfach null vor. Sie wünschen sich vielleicht eine ordentlich Trauung, Taufe usw., das kommt wieder mehr. Wenn es gelingt, eine Beziehung herzustellen, dann sieht die Sache anders aus.

Ulrich Emge

Ehe-, Familien- und Lebensberater und Pastoralreferent in der Diözese Würzburg. Mitglied der Arbeitsgruppe „Neue geistliche Gemeinschaften und kirchliche Bewegungen“ der deutschen Bischofskonferenz, Mitglied der basis-Redaktion.

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Foto: © Heinrich Freiherr von Berlepsch