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Staunend von „Wahrheiten“ verabschiedet

Ein Mann spiegelt sich in einer Fensterscheibe und sieht sich dort als Frau

Staunend von „Wahrheiten“ verabschiedet

Wie neue Forschungserkenntnisse religiöse Aussagen in Frage stellen.
Beispiel Homosexualität 

von Vinzenz Lange

Wir betrachten die Welt vor dem Hintergrund unserer eigenen Erfahrungen. Wodurch zeichnet sich meine Sicht auf die Welt aus? 

Zehn Jahren Grundlagenforschung zu medizinischen Themen haben mich geprägt: Selten bringen Experimente auf Anhieb die Ergebnisse, die man erwartet hätte. Staunen gehört für mich wesentlich zum Forschen dazu: Wahrnehmen. Die eigene Begrenztheit akzeptieren. Die Bereitschaft, Thesen zu verwerfen, wenn die Daten sie widerlegen. Alternative Erklärungen suchen. Und, wenn es gelingt, schließlich neue Erkenntnisse annehmen. Wesentlich in diesem Prozess des Forschens ist die Unterscheidung von dem, was man weiß, und dem, was man denkt zu wissen. Was sind die unverrückbaren Grundlagen? Was sind sehr gut belegte Erkenntnisse? Welches „Wissen“ wird eventuell von einer großen Mehrheit angenommen, ohne dass es je durch Experimente belegt wurde? Falls es Belege gibt: Sind die Methoden, die damals verwendet wurden, heute noch aussagekräftig? Die größten wissenschaftlichen Durchbrüche basieren oft darauf, dass Lehrmeinungen widerlegt und durch neue Erkenntnisse ersetzt werden.

Alles hinterfragen?

In Diskussionen in der Gemeinde ist mir bewusst geworden, dass bei vielen Glaubensgeschwistern eine große Angst davor besteht, „Wissen“ beziehungsweise „Wahrheiten“ zu hinterfragen. Für die meisten Menschen (außerhalb der Wissenschaft) ist Wissen feststehend(er). Es ist weniger offensichtlich, dass grundlegender Fortschritt oft bedingt, Altes zu hinterfragen und manches aufzugeben. In den Gesprächen wird die Angst spürbar, dass das Hinterfragen einer „Wahrheit“ alles in Frage stellen könnte: Auf was kann ich mich dann noch verlassen? Was gibt mir dann noch Halt?

Wenn ich auf Jesus schaue, seine Begegnungen mit Menschen, fällt mir auf, wie oft er die Menschen herausgefordert hat: Er spricht mit der Samaritanischen Frau (Joh. 4,6-15), isst und feiert mit den Zöllnern (Mt 9,9-13)… Schließlich heilt er den Gelähmten am Sabbat (Mk 3,1-6). In den Augen der Menschen damals ein klarer Verstoß gegen das dritte Gebot. Warum diese Provokationen? Er liebt die Menschen! Er möchte die Menschen erreichen und heilen. Diese Messlatte möchte ich im Blick behalten, so dass ich nicht in die Falle tappe und Moral über das Heil des Menschen vor mir stelle. Stattdessen möchte ich unsere heutigen Möglichkeiten nutzen, einschließlich der Methoden der Wissenschaft, um zu ergründen, was Menschen zu einem erfüllten Leben führt. Nachfolge Christi im 21. Jahrhundert…

Streitthema Homosexualität

In unserer Gemeinde ist Homosexualität gerade ein großes Streitthema. So habe ich begonnen, mich näher damit zu beschäftigen und bin ins Staunen gekommen. Die Erfahrungen der Menschen, von denen ich las, passten nicht zusammen mit meinen „Wahrheiten“, die ich aus Erziehung und kirchlicher Verkündigung übernommen hatte. Diese lassen sich verkürzt so zusammenfassen: 

  1. Auf der Grundlage der Bibel verurteilt die Kirche homosexuelle Handlungen als Sünde. 
  2. Homosexualität ist eine krankhafte Abweichung von der heterosexuellen Norm, die Gott geschaffen hat. 
  3. Da Gott das Heil der Menschen will, ist unsere Aufgabe (im Rahmen unserer Möglichkeiten), mitzuwirken an der Heilung von homosexuellen Menschen. …

Vinzenz Lange

Dr. rer.nat., Biochemiker, Geschäftsführer Technologie des DKMS Life Science Labs in Dresden, verheiratet und hat vier Kinder im Schulalter.

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