Suchende Zeugen bleiben
von Michael Gerber
Unmittelbar vor Weihnachten war ich zu einem Abendessen eingeladen. Meine Gastgeber, drei Geschwister im Alter von Studierenden, stammten ursprünglich aus einer syrischen Großstadt. Im vergangenen Sommer hatte ich ihnen bei der Vermittlung einer Unterkunft geholfen. Nun wollten sie sich mit einem gemeinsamen Abend bedanken. Ungewöhnliche Wege hatten sie zurückgelegt. Jetzt waren sie seit knapp neun Monaten in unserem Land. Mir fiel auf, wie sicher sie bereits in der deutschen Sprache waren.
Eine Familiengeschichte als Zeugnis
Wir kamen über ihren Weg ins Gespräch. Sie erzählten von der Flucht aus der zerbombten Heimat nach Deutschland. Ihre Geschichte hinterließ in mir einen tiefen Eindruck. Die Familie hatte eine unmittelbare Bedrohung durch den IS erlebt. Und doch strahlten diese drei jungen Menschen eine eigentümliche Zuversicht aus. Sie hatten konkrete Pläne für ihren weiteren Weg. Auf den Deutschkurs sollte ein Studium im technischen Bereich folgen. Teilweise konnten sie an bereits in der Heimat begonnene Studiengänge anknüpfen.
Später am Abend wollte wissen, was den Geschwistern trotz der schrecklichen Erfahrungen denn diese Zuversicht gäbe. „Wissen Sie“ – so einer der Brüder – „unsere Familie hat das vor 100 Jahren schon einmal erlebt. Wir sind eigentlich Armenier und unsere Großeltern stammten aus einer Gegend in der heutigen Türkei. Damals mussten unsere Vorfahren fliehen und haben alles aufgegeben. Am neuen Ort, in unserer bisherigen Heimat, haben sie neu angefangen. Weil sie als Familie zusammengehalten haben, ist es ihnen gelungen, eine neue Existenz aufzubauen. Ihre Geschichte ist in unserer Familie sehr lebendig. So glauben wir, dass es uns auch jetzt wieder gelingt, am fremden Ort eine neue Existenz aufzubauen.“ …
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