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Unterwegs zum großen Ziel

Unterwegs zum großen Ziel

Auf dem Jakobsweg

von Hubertus Brantzen

In dem gerade erschienenen Buch „Christliche Werte leben – Politik gestalten“ beschreibt Reiner Haseloff, Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt, wie er aus einer „Spiritualität der Begegnung“ sein Leben und seine Berufung als Politiker versteht und gestaltet. Am Ende des Buches schildert er, gleichsam als Zusammenfassung, wie er sich mit seiner Frau und Freunden auf den Camino, den Pilgerweg nach Santiago de Compostela, machte: 

„Diese Pilgerschaft – im Jahr 2023 sollen sich etwa eine halbe Million Menschen auf den Weg gemacht haben – ist für mich ein Sinnbild meines Lebens-, Berufs- und Berufungsweges. Es ist für mich als Mensch, Christ, Ehemann, Vater, Großvater, aber auch als Politiker und Ministerpräsident ein Bild, das ich auf dem Weg bin, mit allen Höhen und Tiefen, mit Freude über das Ankommen an kleinen und größeren Zielen, doch auch mit so manchem Schmerz, weniger in Form von Blasen an den Füßen, sondern durch kleine und größere Enttäuschungen.“

In diesem Jahr ist bereits die Zahl von einer halben Million Menschen auf dem Weg nach Santiago überschritten. Spreche ich mit anderen über diesen Pilgerweg, so schwärmen nicht wenige, bereits auf dieser Route unterwegs gewesen zu sein. Von anderen höre ich immer wieder die Aussage: „Ich möchte mich auch irgendwann aufmachen, um wenigstens ein Stück dieses Weges zu gehen.“

Der Camino ist zu einem Sehnsuchtsbild geworden. Wie Ministerpräsident Haseloff schreibt, kann man auf diesem Weg sich selbst und das eigene Leben spüren. Selbst die Blasen an den Füßen, die auf dem Weg über Stock und Stein entstehen, werden zum Sinnbild des Lebens.

Sich anstecken lassen und sich aufmachen

Nachdem ein befreundeter Pfarrer überschwänglich von dem neuesten Abschnitt seines Weges nach Santiago in Frankreich erzählte, ließen sich auch meine Frau und ich von dieser Begeisterung anstecken. Wir machten uns vor etwa einem Jahr auf den Weg von Mainz über Worms, Speyer und Herxheim durch die Pfalz und den Pfälzer Wald nach Frankreich, Metz, Toul … Zunächst in kleinen Abschnitten, dann aber in größeren Wegstrecken. 

Ich möchte nun nicht in großen Worten über das Pilgern an sich nachdenken, sondern einige Erfahrungen und Überlegungen schildern, die uns den Weg von Mal zu Mal wertvoller machen. Dabei geht es um Empfindungen, neue Durchblicke und Rituale, die sich wie von selbst entwickelt haben.

Der Weg und das Ziel

Ein Satz, der uns im Zusammenhang mit dem Camino immer wieder entgegenschlägt ist: „Der Weg ist das Ziel“. „Outdoor“-Wegbeschreibungen haben diesen Slogan als durchgängige Überschrift für die verschiedenen Jakobswege durch ganz Europa gewählt.

Der Satz suggeriert die Vorstellung, dass der Weg Selbstzweck sei und es gar nicht so sehr auf das Ziel ankomme. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass der Weg an sich mit allem, was er bereithält, eine große Faszination auslöst: die Begegnungen mit Menschen, mit Dörfern und Städten, mit Flüssen, Wäldern, Feldern,  Vögeln – und die kaum planbare Witterung.  Doch das Sich-Ausstrecken nach dem Ziel ist mindestens genauso stark. Das Ankommen an kleinen und größeren Zielen, wie es Reiner Haseloff ausdrückt, macht glücklich. Das Ziel eines Tages-Pilgerweges geschafft zu haben oder nach einer längeren Strecke mit Zwischenstationen endlich etwa in der Kathedrale von Metz anzukommen – das sind Geschenke, die wir nicht missen möchten. 

Und in unserem Bewusstsein schwebt das große Ziel Santiago, dessen kleiner werdende Kilometerzahl wir ab und zu berechnen. Und dieses Santiago steht bewusst für das Ziel unseres Lebens, wie ein Pilgergebet aus der Zeit um 1078 formuliert.

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Hubertus Brantzen

Prof. Dr., Pastoraltheologe, Mainz.

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