Verurteilende Vorurteile
Wenn der Mut zur Mehrdeutigkeit fehlt
von Klaus Glas
Sie sitzen in einem Raum einer US-amerikanischen Universität. Als Versuchsperson nehmen Sie an einer Art Computer-Ballerspiel teil. In der Rolle eines Polizisten sollen Sie so schnell wie möglich auf die Taste „schießen“ drücken, sobald eine männliche Person mit einer Waffe in der Hand auf dem Bildschirm auftaucht. Wenn dagegen ein Mann mit einem harmlosen Gegenstand – etwa einem Handy – erscheint, sollen Sie die Taste „nicht schießen“ drücken. Auf dem Monitor werden – wir sind in den USA – entweder weiße oder schwarze Personen präsentiert.
Warum denken sich Wissenschaftler solche Szenarien aus? Wie in anderen Fällen auch schauen die Experten zunächst auf das Leben: einige Jahre zuvor wurde bei einer Personenkontrolle in der Bronx, einem Stadtteil von New York City, ein Schwarzer mit 19 Schüssen getötet. Insgesamt feuerten die Beamten 41 Kugeln auf den 22-jährigen Immigranten aus Westafrika. Dabei wollte der nur seinen Ausweis zücken. Doch die Polizisten deuteten das Verhalten als Griff zur Knarre…
Josh Correll und seine Kollegen fanden in ihrer Untersuchung heraus: die Hautfarbe der Zielperson beeinflusst massiv die soziale Wahrnehmung und das Verhalten. Versuchspersonen neigen signifikant häufiger dazu, unbewaffnete Schwarze zu „erschießen“ als unbewaffnete Weiße. Dieses „Shooting-Bias“ tritt sogar auf, wenn der „Polizist“ am PC selber schwarz ist. Das Stereotyp „Schwarze sind kriminell“ wirkt sich auf das Verhalten (schießen) aus. „Mittlerweile gibt es eine Fülle von Studien, die den Einfluss von automatisch aktivierten Stereotypen auf Wahrnehmung und Verhalten zeigen“, sagt Lars-Eric Petersen, Psychologe an der Universität Halle-Wittenberg.
Was in den Köpfen vor sich geht: Stereotypisierung
Stereotype sind Eigenschaften, die wir mit einer sozialen Gruppe assoziieren.
Sie können negativ („Mädchen können kein Mathe)“ oder positiv sein („Schwarze haben den Blues im Blut“).
Man ordnet jeden und jede ein. Schublade auf: „Die Frau dort trägt ein Kopftuch, obwohl es sommerlich-warm ist. Wahrscheinlich eine Türkin.“ Schublade zu. Schublade auf: „Die Blondine auf dem Klinikflur ist eine Krankenschwester. Ich frage sie gleich mal, in welchem Zimmer mein Vater liegt.“ Schublade zu. Natürlich sind Stereotype oft nicht wahr. Die vermeintliche Türkin ist eine krebskranke Deutsche, die durch eine Chemotherapie ihre Haare verloren hat. Und die Krankenschwester ist in Wirklichkeit Oberärztin am Klinikum.
Es ist wie mit dem Atmen: man tut es beiläufig, aber man macht es nicht bewusst: Blitzgedanken, die in Sekundenschnelle im Kopf entstehen, werden automatisch hergestellt. Beziehen sich die Kognitionen auf Personen, findet eine Einordnung in eine Art Schubladensystem statt. Dieser Vorgang wird „soziale Kategorisierung“ genannt. Die anderen werden aufgrund sichtbarer körperlicher oder kultureller Merkmale eingestuft: der lange Bart und die dunkle Hautfarbe oder das Kopftuch und der Kaftan. Kategorisierungen – Schublade auf, Schublade zu – nehmen wir von Kindesbeinen an vor. Schon Dreijährige – schwarze und weiße – ordnen andere Kinder nicht nur nach Geschlecht und Alter, sondern auch nach ihrer Hautfarbe ….
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